Linker Hand dem Altare sitzen Scotus und Am- brosius. Wahreres läßt sich nichts denken, als den heiligen Augustin, der diktirt, und die eilende Sorg- falt, mit der sein Schreiber nachschreibt. St. Tho- mas, Pabst Anaclet, Bonaventura, Pabst Inno- cenz der Dritte, Dante, Savanarola, sind die be- kanntesten Köpfe unter den übrigen.
Man bewundert mit Recht die Mannichfaltigkeit und die Wahrheit des Charakters in diesen Köpfen. Sie sind aber mit einem Fleiße ausgeführt, der an Trockenheit gränzt. Diese Trockenheit allein kann uns auf die Epoche schließen lassen, in der dies Ge- mählde von Raphael verfertigt wurde. Es ist das erste von seiner Hand in diesem Pallaste, folglich aus einer Zeit, in der er wider den Geschmack des Pietro Perugino ankämpfte, aber den Einfluß der frühern Erziehung noch nicht ganz überwinden konnte. Da- her auch das natürliche Gold in den Glorien! Hinge- gen sieht man auch die Bekanntschaft mit den Floren- tinern, das Bestreben ihre Vorzüge sich zu eigen zu machen, in dem Stile der Gewänder, in den For- men und Stellungen der jugendlichen Figuren, und in dem Colorit.
Es ist äußerst interessant zu bemerken, wie Ra- phael selbst während der Arbeit an diesem Gemählde in der Kunst zugenommen hat. Er fing mit der rechten Seite an, und seine furchtsame und ungewisse Hand wollte dem Kopfe noch nicht die rechte Folge lei- sten. Aber auf der linken Seite merkt man ihm schon mehr Freiheit mehr Festigkeit an.
Raphael
Erster Theil. L
Der Vaticaniſche Pallaſt.
Linker Hand dem Altare ſitzen Scotus und Am- broſius. Wahreres laͤßt ſich nichts denken, als den heiligen Auguſtin, der diktirt, und die eilende Sorg- falt, mit der ſein Schreiber nachſchreibt. St. Tho- mas, Pabſt Anaclet, Bonaventura, Pabſt Inno- cenz der Dritte, Dante, Savanarola, ſind die be- kannteſten Koͤpfe unter den uͤbrigen.
Man bewundert mit Recht die Mannichfaltigkeit und die Wahrheit des Charakters in dieſen Koͤpfen. Sie ſind aber mit einem Fleiße ausgefuͤhrt, der an Trockenheit graͤnzt. Dieſe Trockenheit allein kann uns auf die Epoche ſchließen laſſen, in der dies Ge- maͤhlde von Raphael verfertigt wurde. Es iſt das erſte von ſeiner Hand in dieſem Pallaſte, folglich aus einer Zeit, in der er wider den Geſchmack des Pietro Perugino ankaͤmpfte, aber den Einfluß der fruͤhern Erziehung noch nicht ganz uͤberwinden konnte. Da- her auch das natuͤrliche Gold in den Glorien! Hinge- gen ſieht man auch die Bekanntſchaft mit den Floren- tinern, das Beſtreben ihre Vorzuͤge ſich zu eigen zu machen, in dem Stile der Gewaͤnder, in den For- men und Stellungen der jugendlichen Figuren, und in dem Colorit.
Es iſt aͤußerſt intereſſant zu bemerken, wie Ra- phael ſelbſt waͤhrend der Arbeit an dieſem Gemaͤhlde in der Kunſt zugenommen hat. Er fing mit der rechten Seite an, und ſeine furchtſame und ungewiſſe Hand wollte dem Kopfe noch nicht die rechte Folge lei- ſten. Aber auf der linken Seite merkt man ihm ſchon mehr Freiheit mehr Feſtigkeit an.
Raphael
Erſter Theil. L
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Der Vaticaniſche Pallaſt.
Linker Hand dem Altare ſitzen Scotus und Am-
broſius. Wahreres laͤßt ſich nichts denken, als den
heiligen Auguſtin, der diktirt, und die eilende Sorg-
falt, mit der ſein Schreiber nachſchreibt. St. Tho-
mas, Pabſt Anaclet, Bonaventura, Pabſt Inno-
cenz der Dritte, Dante, Savanarola, ſind die be-
kannteſten Koͤpfe unter den uͤbrigen.
Man bewundert mit Recht die Mannichfaltigkeit
und die Wahrheit des Charakters in dieſen Koͤpfen.
Sie ſind aber mit einem Fleiße ausgefuͤhrt, der an
Trockenheit graͤnzt. Dieſe Trockenheit allein kann
uns auf die Epoche ſchließen laſſen, in der dies Ge-
maͤhlde von Raphael verfertigt wurde. Es iſt das
erſte von ſeiner Hand in dieſem Pallaſte, folglich aus
einer Zeit, in der er wider den Geſchmack des Pietro
Perugino ankaͤmpfte, aber den Einfluß der fruͤhern
Erziehung noch nicht ganz uͤberwinden konnte. Da-
her auch das natuͤrliche Gold in den Glorien! Hinge-
gen ſieht man auch die Bekanntſchaft mit den Floren-
tinern, das Beſtreben ihre Vorzuͤge ſich zu eigen zu
machen, in dem Stile der Gewaͤnder, in den For-
men und Stellungen der jugendlichen Figuren, und
in dem Colorit.
Es iſt aͤußerſt intereſſant zu bemerken, wie Ra-
phael ſelbſt waͤhrend der Arbeit an dieſem Gemaͤhlde
in der Kunſt zugenommen hat. Er fing mit der
rechten Seite an, und ſeine furchtſame und ungewiſſe
Hand wollte dem Kopfe noch nicht die rechte Folge lei-
ſten. Aber auf der linken Seite merkt man ihm ſchon
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Ramdohr, Friedrich Wilhelm Basilius von: Über Mahlerei und Bildhauerarbeit in Rom für Liebhaber des Schönen in der Kunst. T. 1. Leipzig, 1787, S. 161. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/ramdohr_mahlerei01_1787/183>, abgerufen am 18.07.2024.
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