nier, die im Grunde nur eine Verbesserung der er- sten ist.
Ausdruck bleibt auch hier der charakteristische Vorzug unsers Meisters. Die dichterische Erfindung zeigt schon die Kenntniß des Grundsatzes, daß alle Figuren in einem Gemählde einen ungetrennten An- theil an der Handlung nehmen müssen: daß sie für sich, nicht für den Zuschauer handeln.
Allein die mahlerische Anordnung ist zu symme- trisch. Die Zeichnung ist richtig, ist fein, aber zu hart, zu bestimmt, im kleinlichen Stile. Die Ge- wänder sind noch in zu viele Partien getheilt; die Ausführung ist noch zu trocken, der Fleiß zu sehr auf Nebensachen verschwendet. Ja! ein gewisser gothi- scher Schmuck, z. E. goldener Schein um die Köpfe der Heiligen, goldene Stickerei auf den Gewändern, ist noch nicht abgelegt.
Aber der Begriff von Vollkommenheit war zu sehr in Raphaels Seele gegründet, als daß er lange auf dieser Stufe hätte stehen bleiben sollen. Wir fin- den ihn beschäfftigt, ihr auf verschiedenen Wegen nachzustreben. Bald zieht das Colorit alle seine Auf- merksamkeit an sich, wie in dem Gemählde der Messe zu Bolsena: Bald strebt er dem Helldunkeln nach, wie in dem Gemählde der Befreiung des heiligen Pe- trus: Bald aber zwingt ihn überhäufte Arbeit, sei- nen Schülern die Ausführung seiner Ideen zu über- lassen, und da er die Concurrenz des Michael Angelo in der Zeichnung fürchtet, so verwendet er seine ver- doppelten Kräfte an diesen wichtigsten Theil seiner Kunst. Hier aber steht er in Gefahr, den Anschein
von
H 5
Der Vaticaniſche Pallaſt.
nier, die im Grunde nur eine Verbeſſerung der er- ſten iſt.
Ausdruck bleibt auch hier der charakteriſtiſche Vorzug unſers Meiſters. Die dichteriſche Erfindung zeigt ſchon die Kenntniß des Grundſatzes, daß alle Figuren in einem Gemaͤhlde einen ungetrennten An- theil an der Handlung nehmen muͤſſen: daß ſie fuͤr ſich, nicht fuͤr den Zuſchauer handeln.
Allein die mahleriſche Anordnung iſt zu ſymme- triſch. Die Zeichnung iſt richtig, iſt fein, aber zu hart, zu beſtimmt, im kleinlichen Stile. Die Ge- waͤnder ſind noch in zu viele Partien getheilt; die Ausfuͤhrung iſt noch zu trocken, der Fleiß zu ſehr auf Nebenſachen verſchwendet. Ja! ein gewiſſer gothi- ſcher Schmuck, z. E. goldener Schein um die Koͤpfe der Heiligen, goldene Stickerei auf den Gewaͤndern, iſt noch nicht abgelegt.
Aber der Begriff von Vollkommenheit war zu ſehr in Raphaels Seele gegruͤndet, als daß er lange auf dieſer Stufe haͤtte ſtehen bleiben ſollen. Wir fin- den ihn beſchaͤfftigt, ihr auf verſchiedenen Wegen nachzuſtreben. Bald zieht das Colorit alle ſeine Auf- merkſamkeit an ſich, wie in dem Gemaͤhlde der Meſſe zu Bolſena: Bald ſtrebt er dem Helldunkeln nach, wie in dem Gemaͤhlde der Befreiung des heiligen Pe- trus: Bald aber zwingt ihn uͤberhaͤufte Arbeit, ſei- nen Schuͤlern die Ausfuͤhrung ſeiner Ideen zu uͤber- laſſen, und da er die Concurrenz des Michael Angelo in der Zeichnung fuͤrchtet, ſo verwendet er ſeine ver- doppelten Kraͤfte an dieſen wichtigſten Theil ſeiner Kunſt. Hier aber ſteht er in Gefahr, den Anſchein
von
H 5
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><divn="3"><divn="4"><p><pbfacs="#f0143"n="121"/><fwplace="top"type="header"><hirendition="#b">Der Vaticaniſche Pallaſt.</hi></fw><lb/>
nier, die im Grunde nur eine Verbeſſerung der er-<lb/>ſten iſt.</p><lb/><p>Ausdruck bleibt auch hier der charakteriſtiſche<lb/>
Vorzug unſers Meiſters. Die dichteriſche Erfindung<lb/>
zeigt ſchon die Kenntniß des Grundſatzes, daß alle<lb/>
Figuren in einem Gemaͤhlde einen ungetrennten An-<lb/>
theil an der Handlung nehmen muͤſſen: daß ſie fuͤr<lb/>ſich, nicht fuͤr den Zuſchauer handeln.</p><lb/><p>Allein die mahleriſche Anordnung iſt zu ſymme-<lb/>
triſch. Die Zeichnung iſt richtig, iſt fein, aber zu<lb/>
hart, zu beſtimmt, im kleinlichen Stile. Die Ge-<lb/>
waͤnder ſind noch in zu viele Partien getheilt; die<lb/>
Ausfuͤhrung iſt noch zu trocken, der Fleiß zu ſehr auf<lb/>
Nebenſachen verſchwendet. Ja! ein gewiſſer gothi-<lb/>ſcher Schmuck, z. E. goldener Schein um die Koͤpfe<lb/>
der Heiligen, goldene Stickerei auf den Gewaͤndern,<lb/>
iſt noch nicht abgelegt.</p><lb/><p>Aber der Begriff von Vollkommenheit war zu<lb/>ſehr in Raphaels Seele gegruͤndet, als daß er lange<lb/>
auf dieſer Stufe haͤtte ſtehen bleiben ſollen. Wir fin-<lb/>
den ihn beſchaͤfftigt, ihr auf verſchiedenen Wegen<lb/>
nachzuſtreben. Bald zieht das Colorit alle ſeine Auf-<lb/>
merkſamkeit an ſich, wie in dem Gemaͤhlde der Meſſe<lb/>
zu Bolſena: Bald ſtrebt er dem Helldunkeln nach,<lb/>
wie in dem Gemaͤhlde der Befreiung des heiligen Pe-<lb/>
trus: Bald aber zwingt ihn uͤberhaͤufte Arbeit, ſei-<lb/>
nen Schuͤlern die Ausfuͤhrung ſeiner Ideen zu uͤber-<lb/>
laſſen, und da er die Concurrenz des Michael Angelo<lb/>
in der Zeichnung fuͤrchtet, ſo verwendet er ſeine ver-<lb/>
doppelten Kraͤfte an dieſen wichtigſten Theil ſeiner<lb/>
Kunſt. Hier aber ſteht er in Gefahr, den Anſchein<lb/><fwplace="bottom"type="sig">H 5</fw><fwplace="bottom"type="catch">von</fw><lb/></p></div></div></div></div></body></text></TEI>
[121/0143]
Der Vaticaniſche Pallaſt.
nier, die im Grunde nur eine Verbeſſerung der er-
ſten iſt.
Ausdruck bleibt auch hier der charakteriſtiſche
Vorzug unſers Meiſters. Die dichteriſche Erfindung
zeigt ſchon die Kenntniß des Grundſatzes, daß alle
Figuren in einem Gemaͤhlde einen ungetrennten An-
theil an der Handlung nehmen muͤſſen: daß ſie fuͤr
ſich, nicht fuͤr den Zuſchauer handeln.
Allein die mahleriſche Anordnung iſt zu ſymme-
triſch. Die Zeichnung iſt richtig, iſt fein, aber zu
hart, zu beſtimmt, im kleinlichen Stile. Die Ge-
waͤnder ſind noch in zu viele Partien getheilt; die
Ausfuͤhrung iſt noch zu trocken, der Fleiß zu ſehr auf
Nebenſachen verſchwendet. Ja! ein gewiſſer gothi-
ſcher Schmuck, z. E. goldener Schein um die Koͤpfe
der Heiligen, goldene Stickerei auf den Gewaͤndern,
iſt noch nicht abgelegt.
Aber der Begriff von Vollkommenheit war zu
ſehr in Raphaels Seele gegruͤndet, als daß er lange
auf dieſer Stufe haͤtte ſtehen bleiben ſollen. Wir fin-
den ihn beſchaͤfftigt, ihr auf verſchiedenen Wegen
nachzuſtreben. Bald zieht das Colorit alle ſeine Auf-
merkſamkeit an ſich, wie in dem Gemaͤhlde der Meſſe
zu Bolſena: Bald ſtrebt er dem Helldunkeln nach,
wie in dem Gemaͤhlde der Befreiung des heiligen Pe-
trus: Bald aber zwingt ihn uͤberhaͤufte Arbeit, ſei-
nen Schuͤlern die Ausfuͤhrung ſeiner Ideen zu uͤber-
laſſen, und da er die Concurrenz des Michael Angelo
in der Zeichnung fuͤrchtet, ſo verwendet er ſeine ver-
doppelten Kraͤfte an dieſen wichtigſten Theil ſeiner
Kunſt. Hier aber ſteht er in Gefahr, den Anſchein
von
H 5
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Ramdohr, Friedrich Wilhelm Basilius von: Über Mahlerei und Bildhauerarbeit in Rom für Liebhaber des Schönen in der Kunst. T. 1. Leipzig, 1787, S. 121. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/ramdohr_mahlerei01_1787/143>, abgerufen am 17.02.2025.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
2007–2025 Deutsches Textarchiv, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften
(Kontakt).
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2025. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.