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[Rabener, Gottlieb Wilhelm]: Sammlung satirischer Schriften. Bd. 4. Leipzig, 1755.

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Abbitte
dore verschwendet; sie bringt ihren Mann an den
Bettelstab; sie stürzt ihre Kinder in die verächt-
lichste Armuth: Aber Alcimedore ist eine Frau,
die zu leben weis.



Daß die fromme Agnese unversöhnlich wü-
tet, wenn sie beleidigt wird; das ist auch eine
von den unüberlegten Wahrheiten, die mir itzo
viel Gewissensunruhe machen. Agnese hat gute
Ursachen, sich sehr leicht zu erzürnen. Sie weis
ihre tugendhaften Vollkommenheiten, die ihr ei-
nen so ansehnlichen Rang über alle sündige Men-
schen verschaffen. Jst es nicht eine Verwegen-
heit, wenn ein Mensch, der kaum halb so viel be-
tet, sich unterstehen will, sie zu beleidigen? Das
Andenken ihrer jugendlichen Ausschweifungen
muß ihr empfindlich seyn, wenn man sie daran er-
innert, und sie dadurch in der schmeichelhaften
Einbildung einer heiligen Vollkommenheit stört.
Wer sie beleidigt, der beleidigt die ganze Kirche.
Sie ist ihre unversöhnliche Wut der Religion schul-
dig, um andere abzuschrecken, daß sie diejenigen
nicht verwegen antasten, welche der Religion so
viel Ehre machen. Agnese verdammt mit einer
lieblosen Zuversicht: Aber sie versäumt keine Kirche.
Sie ist neidisch über das unverdiente Glück ande-
rer Menschen: Aber sie hat eine Predigt gestiftet.
Es ist wahr, sie wuchert mit Pfändern, und drückt
ihre armen Schuldner unbarmherzig: Aber sie hat
auch der Kirche einen kostbaren Schmuck geschenkt.
Sie läßt die Dürftigen hungern, und preßt einem

armen

Abbitte
dore verſchwendet; ſie bringt ihren Mann an den
Bettelſtab; ſie ſtuͤrzt ihre Kinder in die veraͤcht-
lichſte Armuth: Aber Alcimedore iſt eine Frau,
die zu leben weis.



Daß die fromme Agneſe unverſoͤhnlich wuͤ-
tet, wenn ſie beleidigt wird; das iſt auch eine
von den unuͤberlegten Wahrheiten, die mir itzo
viel Gewiſſensunruhe machen. Agneſe hat gute
Urſachen, ſich ſehr leicht zu erzuͤrnen. Sie weis
ihre tugendhaften Vollkommenheiten, die ihr ei-
nen ſo anſehnlichen Rang uͤber alle ſuͤndige Men-
ſchen verſchaffen. Jſt es nicht eine Verwegen-
heit, wenn ein Menſch, der kaum halb ſo viel be-
tet, ſich unterſtehen will, ſie zu beleidigen? Das
Andenken ihrer jugendlichen Ausſchweifungen
muß ihr empfindlich ſeyn, wenn man ſie daran er-
innert, und ſie dadurch in der ſchmeichelhaften
Einbildung einer heiligen Vollkommenheit ſtoͤrt.
Wer ſie beleidigt, der beleidigt die ganze Kirche.
Sie iſt ihre unverſoͤhnliche Wut der Religion ſchul-
dig, um andere abzuſchrecken, daß ſie diejenigen
nicht verwegen antaſten, welche der Religion ſo
viel Ehre machen. Agneſe verdammt mit einer
liebloſen Zuverſicht: Aber ſie verſaͤumt keine Kirche.
Sie iſt neidiſch uͤber das unverdiente Gluͤck ande-
rer Menſchen: Aber ſie hat eine Predigt geſtiftet.
Es iſt wahr, ſie wuchert mit Pfaͤndern, und druͤckt
ihre armen Schuldner unbarmherzig: Aber ſie hat
auch der Kirche einen koſtbaren Schmuck geſchenkt.
Sie laͤßt die Duͤrftigen hungern, und preßt einem

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[592[590]/0614] Abbitte dore verſchwendet; ſie bringt ihren Mann an den Bettelſtab; ſie ſtuͤrzt ihre Kinder in die veraͤcht- lichſte Armuth: Aber Alcimedore iſt eine Frau, die zu leben weis. Daß die fromme Agneſe unverſoͤhnlich wuͤ- tet, wenn ſie beleidigt wird; das iſt auch eine von den unuͤberlegten Wahrheiten, die mir itzo viel Gewiſſensunruhe machen. Agneſe hat gute Urſachen, ſich ſehr leicht zu erzuͤrnen. Sie weis ihre tugendhaften Vollkommenheiten, die ihr ei- nen ſo anſehnlichen Rang uͤber alle ſuͤndige Men- ſchen verſchaffen. Jſt es nicht eine Verwegen- heit, wenn ein Menſch, der kaum halb ſo viel be- tet, ſich unterſtehen will, ſie zu beleidigen? Das Andenken ihrer jugendlichen Ausſchweifungen muß ihr empfindlich ſeyn, wenn man ſie daran er- innert, und ſie dadurch in der ſchmeichelhaften Einbildung einer heiligen Vollkommenheit ſtoͤrt. Wer ſie beleidigt, der beleidigt die ganze Kirche. Sie iſt ihre unverſoͤhnliche Wut der Religion ſchul- dig, um andere abzuſchrecken, daß ſie diejenigen nicht verwegen antaſten, welche der Religion ſo viel Ehre machen. Agneſe verdammt mit einer liebloſen Zuverſicht: Aber ſie verſaͤumt keine Kirche. Sie iſt neidiſch uͤber das unverdiente Gluͤck ande- rer Menſchen: Aber ſie hat eine Predigt geſtiftet. Es iſt wahr, ſie wuchert mit Pfaͤndern, und druͤckt ihre armen Schuldner unbarmherzig: Aber ſie hat auch der Kirche einen koſtbaren Schmuck geſchenkt. Sie laͤßt die Duͤrftigen hungern, und preßt einem armen

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Zitationshilfe: [Rabener, Gottlieb Wilhelm]: Sammlung satirischer Schriften. Bd. 4. Leipzig, 1755, S. 592[590]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/rabener_sammlung04_1755/614>, abgerufen am 24.11.2024.