dass man eine Tugend unterlaesst! Aber ich will mir diese Art der Entschuldigung zu Nutze machen. Die Begierde, und die Gelegenheit Boeses zu reden, ist ein bewaehrtes Mittel, un- zaehlige Thorheiten zu vermeiden. Zu der Zeit, wenn die Gesellschaft Boeses redet, entfernt sie sich von der Seuche zu spielen, und ein müh- sam verdientes Vermoegen durch einen un- glücklichen Augenblick unter aengstlicher Hoff- nung zu zerstreuen. Der Richter versaeumt, ungerecht zu seyn, wenn er Boeses von andern redet. Der Advocat merkt es nicht, dass zween Nachbarn in vertraulicher Einigkeit leben, und laesst ihnen daher dieses Glück ungestoert. Der Arzt, wenn er Uebels von andern spricht, ver- gisst sein Amt, und die Menschen bleiben leben!
Die erste Regel, die uns der Moralist ein- praegt, ist diese, dass man alle Mühe anwenden soll, sich und die Welt kennen zu lernen. Ist wohl eine bequemere Art dieses zu lernen, als wenn man die Gesellschaften fleissig besucht, wo am meisten Boeses geredet wird? Man waehle sich nur zwo der besten, und die besten sind diese, wo eine Betschwester oder ein Müssig- gaenger das grosse Wort führen; so lernt man die ganze Stadt kennen, und auch diese beiden Gesellschaften lerne man kennen, weil gewiss keine die andere schonen wird. Philen ist mild- thaetig. Er ernaehrt mit seinem eignen Brodte die Kinder einer Wittwe, welche der Mann in aeusserster Armuth hinterliess, weil er zu ehr-
lich
daſs man eine Tugend unterlaeſst! Aber ich will mir dieſe Art der Entſchuldigung zu Nutze machen. Die Begierde, und die Gelegenheit Boeſes zu reden, iſt ein bewaehrtes Mittel, un- zaehlige Thorheiten zu vermeiden. Zu der Zeit, wenn die Geſellſchaft Boeſes redet, entfernt ſie ſich von der Seuche zu ſpielen, und ein müh- ſam verdientes Vermoegen durch einen un- glücklichen Augenblick unter aengſtlicher Hoff- nung zu zerſtreuen. Der Richter verſaeumt, ungerecht zu ſeyn, wenn er Boeſes von andern redet. Der Advocat merkt es nicht, daſs zween Nachbarn in vertraulicher Einigkeit leben, und laeſst ihnen daher dieſes Glück ungeſtoert. Der Arzt, wenn er Uebels von andern ſpricht, ver- giſst ſein Amt, und die Menſchen bleiben leben!
Die erſte Regel, die uns der Moraliſt ein- praegt, iſt dieſe, daſs man alle Mühe anwenden ſoll, ſich und die Welt kennen zu lernen. Iſt wohl eine bequemere Art dieſes zu lernen, als wenn man die Geſellſchaften fleiſsig beſucht, wo am meiſten Boeſes geredet wird? Man waehle ſich nur zwo der beſten, und die beſten ſind dieſe, wo eine Betſchweſter oder ein Müſsig- gaenger das groſse Wort führen; ſo lernt man die ganze Stadt kennen, und auch dieſe beiden Geſellſchaften lerne man kennen, weil gewiſs keine die andere ſchonen wird. Philen iſt mild- thaetig. Er ernaehrt mit ſeinem eignen Brodte die Kinder einer Wittwe, welche der Mann in aeuſserſter Armuth hinterlieſs, weil er zu ehr-
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daſs man eine Tugend unterlaeſst! Aber ich
will mir dieſe Art der Entſchuldigung zu Nutze
machen. Die Begierde, und die Gelegenheit
Boeſes zu reden, iſt ein bewaehrtes Mittel, un-
zaehlige Thorheiten zu vermeiden. Zu der Zeit,
wenn die Geſellſchaft Boeſes redet, entfernt ſie
ſich von der Seuche zu ſpielen, und ein müh-
ſam verdientes Vermoegen durch einen un-
glücklichen Augenblick unter aengſtlicher Hoff-
nung zu zerſtreuen. Der Richter verſaeumt,
ungerecht zu ſeyn, wenn er Boeſes von andern
redet. Der Advocat merkt es nicht, daſs zween
Nachbarn in vertraulicher Einigkeit leben, und
laeſst ihnen daher dieſes Glück ungeſtoert. Der
Arzt, wenn er Uebels von andern ſpricht, ver-
giſst ſein Amt, und die Menſchen bleiben leben!
Die erſte Regel, die uns der Moraliſt ein-
praegt, iſt dieſe, daſs man alle Mühe anwenden
ſoll, ſich und die Welt kennen zu lernen. Iſt
wohl eine bequemere Art dieſes zu lernen, als
wenn man die Geſellſchaften fleiſsig beſucht, wo
am meiſten Boeſes geredet wird? Man waehle
ſich nur zwo der beſten, und die beſten ſind
dieſe, wo eine Betſchweſter oder ein Müſsig-
gaenger das groſse Wort führen; ſo lernt man
die ganze Stadt kennen, und auch dieſe beiden
Geſellſchaften lerne man kennen, weil gewiſs
keine die andere ſchonen wird. Philen iſt mild-
thaetig. Er ernaehrt mit ſeinem eignen Brodte
die Kinder einer Wittwe, welche der Mann in
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[Rabener, Gottlieb Wilhelm]: Sammlung satirischer Schriften. Bd. 4. Leipzig, 1755, S. 414. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/rabener_sammlung04_1755/436>, abgerufen am 22.11.2024.
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