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[Rabener, Gottlieb Wilhelm]: Sammlung satirischer Schriften. Bd. 4. Leipzig, 1755.

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Abhandlung von Sprüchwörtern.
Andere verfochten schon im funfzehenten Jahre
das Ansehen, und die Wahrheiten ihrer Kirche
mit einer heiligen Wut, die man kaum von
ihren Vätern, so gern auch diese verkätzerten, er-
wartete; und zum großen Unglück unsrer Kirche
waren sie in ihrem vierzigsten Jahre so unwissend,
daß man ihnen kaum mit gutem Gewissen eine
Heerde Bauern anvertrauen konnte. Jch habe
einen Vetter gehabt, der in seinen ersten Universi-
tätsjahren neue Lesarten in den Pandekten er-
fand, und dem Justinianus Schnitzer wies: Aber
was nahm es für ein Ende? Sein Verstand hatte
sich übertrieben, wie eine frühzeitige Frucht, welche
welkt, wenn sie reifen soll. Je älter er ward, je
weniger verstand er; und itzo ist er in seinem funf-
zigsten Jahre Pedell in Duisburg. Mit der
Poesie ist es eben so. Unsre witzigen Kinder fan-
gen mit Heldengedichten an, und hören mit Sinn-
gedichten auf.

Jch habe keine Hoffnung, diese jungen Greise
zu bessern, wenn ich ihnen gleich aus unwider-
sprechlichen Gründen darthun wollte, daß sie ge-
wiß länger verständig seyn würden, wenn sie etwas
später anfiengen, witzig zu seyn, und daß die Be-
hutsamkeit, sich in der ersten Jugend nicht allzu
geschwind zu verewigen, das sicherste Mittel eines
Schriftstellers sey, sich nicht zu überleben. Alles
dieses würde ich ihnen sagen, und würde es ihnen
beweisen; aber die guten Kinder sind gar zu scharf-

sinnig,
X

Abhandlung von Spruͤchwoͤrtern.
Andere verfochten ſchon im funfzehenten Jahre
das Anſehen, und die Wahrheiten ihrer Kirche
mit einer heiligen Wut, die man kaum von
ihren Vaͤtern, ſo gern auch dieſe verkaͤtzerten, er-
wartete; und zum großen Ungluͤck unſrer Kirche
waren ſie in ihrem vierzigſten Jahre ſo unwiſſend,
daß man ihnen kaum mit gutem Gewiſſen eine
Heerde Bauern anvertrauen konnte. Jch habe
einen Vetter gehabt, der in ſeinen erſten Univerſi-
taͤtsjahren neue Lesarten in den Pandekten er-
fand, und dem Juſtinianus Schnitzer wies: Aber
was nahm es fuͤr ein Ende? Sein Verſtand hatte
ſich uͤbertrieben, wie eine fruͤhzeitige Frucht, welche
welkt, wenn ſie reifen ſoll. Je aͤlter er ward, je
weniger verſtand er; und itzo iſt er in ſeinem funf-
zigſten Jahre Pedell in Duisburg. Mit der
Poeſie iſt es eben ſo. Unſre witzigen Kinder fan-
gen mit Heldengedichten an, und hoͤren mit Sinn-
gedichten auf.

Jch habe keine Hoffnung, dieſe jungen Greiſe
zu beſſern, wenn ich ihnen gleich aus unwider-
ſprechlichen Gruͤnden darthun wollte, daß ſie ge-
wiß laͤnger verſtaͤndig ſeyn wuͤrden, wenn ſie etwas
ſpaͤter anfiengen, witzig zu ſeyn, und daß die Be-
hutſamkeit, ſich in der erſten Jugend nicht allzu
geſchwind zu verewigen, das ſicherſte Mittel eines
Schriftſtellers ſey, ſich nicht zu uͤberleben. Alles
dieſes wuͤrde ich ihnen ſagen, und wuͤrde es ihnen
beweiſen; aber die guten Kinder ſind gar zu ſcharf-

ſinnig,
X
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[321/0343] Abhandlung von Spruͤchwoͤrtern. Andere verfochten ſchon im funfzehenten Jahre das Anſehen, und die Wahrheiten ihrer Kirche mit einer heiligen Wut, die man kaum von ihren Vaͤtern, ſo gern auch dieſe verkaͤtzerten, er- wartete; und zum großen Ungluͤck unſrer Kirche waren ſie in ihrem vierzigſten Jahre ſo unwiſſend, daß man ihnen kaum mit gutem Gewiſſen eine Heerde Bauern anvertrauen konnte. Jch habe einen Vetter gehabt, der in ſeinen erſten Univerſi- taͤtsjahren neue Lesarten in den Pandekten er- fand, und dem Juſtinianus Schnitzer wies: Aber was nahm es fuͤr ein Ende? Sein Verſtand hatte ſich uͤbertrieben, wie eine fruͤhzeitige Frucht, welche welkt, wenn ſie reifen ſoll. Je aͤlter er ward, je weniger verſtand er; und itzo iſt er in ſeinem funf- zigſten Jahre Pedell in Duisburg. Mit der Poeſie iſt es eben ſo. Unſre witzigen Kinder fan- gen mit Heldengedichten an, und hoͤren mit Sinn- gedichten auf. Jch habe keine Hoffnung, dieſe jungen Greiſe zu beſſern, wenn ich ihnen gleich aus unwider- ſprechlichen Gruͤnden darthun wollte, daß ſie ge- wiß laͤnger verſtaͤndig ſeyn wuͤrden, wenn ſie etwas ſpaͤter anfiengen, witzig zu ſeyn, und daß die Be- hutſamkeit, ſich in der erſten Jugend nicht allzu geſchwind zu verewigen, das ſicherſte Mittel eines Schriftſtellers ſey, ſich nicht zu uͤberleben. Alles dieſes wuͤrde ich ihnen ſagen, und wuͤrde es ihnen beweiſen; aber die guten Kinder ſind gar zu ſcharf- ſinnig, X

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Zitationshilfe: [Rabener, Gottlieb Wilhelm]: Sammlung satirischer Schriften. Bd. 4. Leipzig, 1755, S. 321. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/rabener_sammlung04_1755/343>, abgerufen am 25.11.2024.