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[Rabener, Gottlieb Wilhelm]: Sammlung satirischer Schriften. Bd. 4. Leipzig, 1755.

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Abhandlung von Sprüchwörtern.
freute sich über die große Fähigkeit ihres lieben
Sohnes, welcher schon im funfzehenten Jahre
vermögend war, ganz deutlich und vernehmlich zu
lesen. Sie war gewohnt, alle Staats- und an-
dere Neuigkeiten zu beurtheilen, und kraft ihrer
Einsicht, die politischen Fehler gekrönter Häupter
eben so scharf zu tadeln, als die wirthschaftlichen
Fehler ihrer Frau Gevatterinn. Diese vorwitzi-
gen Urtheile gefielen ihrem feisten Jungen. Er
plauderte von den politischen Händeln damaliger
Zeiten so dreist, und so dumm, wie seine werthe-
ste Mama, welche vielmals über seinen frühzeiti-
gen Verstand die bittersten Thränen vergoß, da sie
nicht ohne Grund befürchtete, daß das kluge Kind
unmöglich lange leben könnte. So war die be-
qveme Erziehung, welche ihm die Mutter gab,
und über welche sich der Vater unendlich betrübte,
ohne daß er im Stande gewesen wäre, dem Uebel
abzuhelfen, weil er nur Vater war, die Mutter
aber Europa, und sein ganzes Haus regierte. End-
lich traf er doch die glückliche Stunde, wo er ihr
begreiflich machen konnte, daß es der Gesundheit,
und dem guten Namen ihres Sohnes sehr zuträg-
lich seyn würde, wenn er auf Reisen gienge. Nach
vielen ängstlichen Widersprüchen gab sie ihre Ein-
willigung darein, doch unter der ausdrücklichen
Bedingung, daß seine erste Reise weiter nicht, als
nach Holland zu ihren Freunden gehen sollte; so
wie ein Vogel mit seiner jungen Brut aus dem
Neste zuerst nur auf die nächsten Zweige flattert,
wenn er sie gewöhnen will, auszufliegen. Nie-

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T 5

Abhandlung von Spruͤchwoͤrtern.
freute ſich uͤber die große Faͤhigkeit ihres lieben
Sohnes, welcher ſchon im funfzehenten Jahre
vermoͤgend war, ganz deutlich und vernehmlich zu
leſen. Sie war gewohnt, alle Staats- und an-
dere Neuigkeiten zu beurtheilen, und kraft ihrer
Einſicht, die politiſchen Fehler gekroͤnter Haͤupter
eben ſo ſcharf zu tadeln, als die wirthſchaftlichen
Fehler ihrer Frau Gevatterinn. Dieſe vorwitzi-
gen Urtheile gefielen ihrem feiſten Jungen. Er
plauderte von den politiſchen Haͤndeln damaliger
Zeiten ſo dreiſt, und ſo dumm, wie ſeine werthe-
ſte Mama, welche vielmals uͤber ſeinen fruͤhzeiti-
gen Verſtand die bitterſten Thraͤnen vergoß, da ſie
nicht ohne Grund befuͤrchtete, daß das kluge Kind
unmoͤglich lange leben koͤnnte. So war die be-
qveme Erziehung, welche ihm die Mutter gab,
und uͤber welche ſich der Vater unendlich betruͤbte,
ohne daß er im Stande geweſen waͤre, dem Uebel
abzuhelfen, weil er nur Vater war, die Mutter
aber Europa, und ſein ganzes Haus regierte. End-
lich traf er doch die gluͤckliche Stunde, wo er ihr
begreiflich machen konnte, daß es der Geſundheit,
und dem guten Namen ihres Sohnes ſehr zutraͤg-
lich ſeyn wuͤrde, wenn er auf Reiſen gienge. Nach
vielen aͤngſtlichen Widerſpruͤchen gab ſie ihre Ein-
willigung darein, doch unter der ausdruͤcklichen
Bedingung, daß ſeine erſte Reiſe weiter nicht, als
nach Holland zu ihren Freunden gehen ſollte; ſo
wie ein Vogel mit ſeiner jungen Brut aus dem
Neſte zuerſt nur auf die naͤchſten Zweige flattert,
wenn er ſie gewoͤhnen will, auszufliegen. Nie-

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[297/0319] Abhandlung von Spruͤchwoͤrtern. freute ſich uͤber die große Faͤhigkeit ihres lieben Sohnes, welcher ſchon im funfzehenten Jahre vermoͤgend war, ganz deutlich und vernehmlich zu leſen. Sie war gewohnt, alle Staats- und an- dere Neuigkeiten zu beurtheilen, und kraft ihrer Einſicht, die politiſchen Fehler gekroͤnter Haͤupter eben ſo ſcharf zu tadeln, als die wirthſchaftlichen Fehler ihrer Frau Gevatterinn. Dieſe vorwitzi- gen Urtheile gefielen ihrem feiſten Jungen. Er plauderte von den politiſchen Haͤndeln damaliger Zeiten ſo dreiſt, und ſo dumm, wie ſeine werthe- ſte Mama, welche vielmals uͤber ſeinen fruͤhzeiti- gen Verſtand die bitterſten Thraͤnen vergoß, da ſie nicht ohne Grund befuͤrchtete, daß das kluge Kind unmoͤglich lange leben koͤnnte. So war die be- qveme Erziehung, welche ihm die Mutter gab, und uͤber welche ſich der Vater unendlich betruͤbte, ohne daß er im Stande geweſen waͤre, dem Uebel abzuhelfen, weil er nur Vater war, die Mutter aber Europa, und ſein ganzes Haus regierte. End- lich traf er doch die gluͤckliche Stunde, wo er ihr begreiflich machen konnte, daß es der Geſundheit, und dem guten Namen ihres Sohnes ſehr zutraͤg- lich ſeyn wuͤrde, wenn er auf Reiſen gienge. Nach vielen aͤngſtlichen Widerſpruͤchen gab ſie ihre Ein- willigung darein, doch unter der ausdruͤcklichen Bedingung, daß ſeine erſte Reiſe weiter nicht, als nach Holland zu ihren Freunden gehen ſollte; ſo wie ein Vogel mit ſeiner jungen Brut aus dem Neſte zuerſt nur auf die naͤchſten Zweige flattert, wenn er ſie gewoͤhnen will, auszufliegen. Nie- mand T 5

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Zitationshilfe: [Rabener, Gottlieb Wilhelm]: Sammlung satirischer Schriften. Bd. 4. Leipzig, 1755, S. 297. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/rabener_sammlung04_1755/319>, abgerufen am 22.11.2024.