Jch bin noch bis auf gegenwärtige Stunde ungewiß, ob ich dieses Sprüchwort für wahr halten, oder glauben soll, daß es, wo nicht gar ungegründet, doch bey uns wenigstens ganz aus der Mode gekommen sey.
Alle Weltweisen, in der unendlich langen Reihe, vom großen Sokrates bis auf unsern kleinen - - - *) tummeln sich mit dieser alten Wahrheit, an der sie innerlich selbst zweifeln, weil ein Philosoph gar selten die moralischen Wahr- heiten glaubt, die er andern lehrt.
Und wo soll ich den Beweis von der Wahr- heit dieses Sprüchwortes hernehmen, wenn mir die Philosophen heucheln, wenn mir die Auffüh- rung der halben Welt bezeuget, daß man es für ungegründet hält, und wenn ich so viel Menschen vor mir sehe, die in ihrem Alter etwas ganz an- ders thun, als sie in ihrer Jugend gewohnt ge- wesen sind?
Glaubte die Welt, daß die ersten Angewohn- heiten der Jugend einen unvermeidlichen Einfluß in den übrigen Theil des Lebens hätten; so wür- den diejenigen, denen die Natur, oder die Obrig-
keit,
*) Eine jede philosophische Secte hat die Freyheit, diese Lücke auszufüllen.
Jung gewohnt, alt gethan.
Jch bin noch bis auf gegenwaͤrtige Stunde ungewiß, ob ich dieſes Spruͤchwort fuͤr wahr halten, oder glauben ſoll, daß es, wo nicht gar ungegruͤndet, doch bey uns wenigſtens ganz aus der Mode gekommen ſey.
Alle Weltweiſen, in der unendlich langen Reihe, vom großen Sokrates bis auf unſern kleinen ‒ ‒ ‒ *) tummeln ſich mit dieſer alten Wahrheit, an der ſie innerlich ſelbſt zweifeln, weil ein Philoſoph gar ſelten die moraliſchen Wahr- heiten glaubt, die er andern lehrt.
Und wo ſoll ich den Beweis von der Wahr- heit dieſes Spruͤchwortes hernehmen, wenn mir die Philoſophen heucheln, wenn mir die Auffuͤh- rung der halben Welt bezeuget, daß man es fuͤr ungegruͤndet haͤlt, und wenn ich ſo viel Menſchen vor mir ſehe, die in ihrem Alter etwas ganz an- ders thun, als ſie in ihrer Jugend gewohnt ge- weſen ſind?
Glaubte die Welt, daß die erſten Angewohn- heiten der Jugend einen unvermeidlichen Einfluß in den uͤbrigen Theil des Lebens haͤtten; ſo wuͤr- den diejenigen, denen die Natur, oder die Obrig-
keit,
*) Eine jede philoſophiſche Secte hat die Freyheit, dieſe Luͤcke auszufuͤllen.
<TEI><text><body><divn="1"><pbfacs="#f0156"n="134"/><milestonerendition="#hr"unit="section"/><lb/><divn="2"><head><hirendition="#b">Jung gewohnt, alt gethan.</hi></head><lb/><p><hirendition="#in">J</hi>ch bin noch bis auf gegenwaͤrtige Stunde<lb/>
ungewiß, ob ich dieſes Spruͤchwort fuͤr<lb/>
wahr halten, oder glauben ſoll, daß es, wo nicht<lb/>
gar ungegruͤndet, doch bey uns wenigſtens ganz<lb/>
aus der Mode gekommen ſey.</p><lb/><p>Alle Weltweiſen, in der unendlich langen<lb/>
Reihe, vom großen Sokrates bis auf unſern<lb/>
kleinen ‒‒‒<noteplace="foot"n="*)">Eine jede philoſophiſche Secte hat die Freyheit, dieſe<lb/>
Luͤcke auszufuͤllen.</note> tummeln ſich mit dieſer alten<lb/>
Wahrheit, an der ſie innerlich ſelbſt zweifeln, weil<lb/>
ein Philoſoph gar ſelten die moraliſchen Wahr-<lb/>
heiten glaubt, die er andern lehrt.</p><lb/><p>Und wo ſoll ich den Beweis von der Wahr-<lb/>
heit dieſes Spruͤchwortes hernehmen, wenn mir<lb/>
die Philoſophen heucheln, wenn mir die Auffuͤh-<lb/>
rung der halben Welt bezeuget, daß man es fuͤr<lb/>
ungegruͤndet haͤlt, und wenn ich ſo viel Menſchen<lb/>
vor mir ſehe, die in ihrem Alter etwas ganz an-<lb/>
ders thun, als ſie in ihrer Jugend gewohnt ge-<lb/>
weſen ſind?</p><lb/><p>Glaubte die Welt, daß die erſten Angewohn-<lb/>
heiten der Jugend einen unvermeidlichen Einfluß<lb/>
in den uͤbrigen Theil des Lebens haͤtten; ſo wuͤr-<lb/>
den diejenigen, denen die Natur, oder die Obrig-<lb/><fwplace="bottom"type="catch">keit,</fw><lb/></p></div></div></body></text></TEI>
[134/0156]
Jung gewohnt, alt gethan.
Jch bin noch bis auf gegenwaͤrtige Stunde
ungewiß, ob ich dieſes Spruͤchwort fuͤr
wahr halten, oder glauben ſoll, daß es, wo nicht
gar ungegruͤndet, doch bey uns wenigſtens ganz
aus der Mode gekommen ſey.
Alle Weltweiſen, in der unendlich langen
Reihe, vom großen Sokrates bis auf unſern
kleinen ‒ ‒ ‒ *) tummeln ſich mit dieſer alten
Wahrheit, an der ſie innerlich ſelbſt zweifeln, weil
ein Philoſoph gar ſelten die moraliſchen Wahr-
heiten glaubt, die er andern lehrt.
Und wo ſoll ich den Beweis von der Wahr-
heit dieſes Spruͤchwortes hernehmen, wenn mir
die Philoſophen heucheln, wenn mir die Auffuͤh-
rung der halben Welt bezeuget, daß man es fuͤr
ungegruͤndet haͤlt, und wenn ich ſo viel Menſchen
vor mir ſehe, die in ihrem Alter etwas ganz an-
ders thun, als ſie in ihrer Jugend gewohnt ge-
weſen ſind?
Glaubte die Welt, daß die erſten Angewohn-
heiten der Jugend einen unvermeidlichen Einfluß
in den uͤbrigen Theil des Lebens haͤtten; ſo wuͤr-
den diejenigen, denen die Natur, oder die Obrig-
keit,
*) Eine jede philoſophiſche Secte hat die Freyheit, dieſe
Luͤcke auszufuͤllen.
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
[Rabener, Gottlieb Wilhelm]: Sammlung satirischer Schriften. Bd. 4. Leipzig, 1755, S. 134. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/rabener_sammlung04_1755/156>, abgerufen am 22.12.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.