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[Rabener, Gottlieb Wilhelm]: Sammlung satirischer Schriften. Bd. 4. Leipzig, 1755.

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Abhandlung von Sprüchwörtern.
sahe sie der Entwickelung ihres Romans ganz ge-
lassen entgegen, und nutzte die kurze Zeit sehr vor-
sichtig. Sie ließ ihn endlich aus ihren Armen,
nicht mit der wilden Empfindung einer jungen Lieb-
haberinn, sondern mit der ernsthaften Zärtlichkeit
einer liebreichen Mutter, welche ihren Sohn von
sich läßt, ohne Hoffnung zu haben, ihn wieder zu
sehen. Die Thränen, die sie bey dem Abschiede
vergoß, waren Thränen, welche sie dem Anden-
ken seines Vaters weihte. Der junge Baron
machte es, wie sein Vater. Er setzte sich auf
seine Güter, heirathete, und vergaß Brigitten, wel-
che an ihn immer mit Vergnügen, und an seinen
Vater nicht ohne Seufzer dachte. Unter einer
bequemen Ruhe, die sie bey ihrem ansehnlichen
Vermögen sich verschaffen konnte, war sie in ihr
neun und funfzigstes Jahr getreten, da sie erfuhr,
daß der Enkel ihres noch angebeteten Barons, und
der Sohn ihres noch unvergeßnen Liebhabers auf
die hohe Schule gekommen sey. Es gieng ihr
nahe, da man ihr zugleich die Nachricht gab, daß
diese Familie durch verschiednes Unglück in gänz-
lichen Verfall gekommen sey. Dieses war eine
Ursache mehr, warum sie verlangte, den jungen
Baron kennen zu lernen. Sie wollte gegen sich
selbst eine Liebe verbergen, die bey ihren Jahren
lächerlich war: Sie beredete sich also, es sey nur
ein freundschaftliches Mitleiden, welches sie dem
Andenken seines Vaters und seines Großvaters
schuldig sey. Aber sie betrog sich selbst. Es war
die uralte Liebe zu seinem Großvater, und die alte

Liebe
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Abhandlung von Spruͤchwoͤrtern.
ſahe ſie der Entwickelung ihres Romans ganz ge-
laſſen entgegen, und nutzte die kurze Zeit ſehr vor-
ſichtig. Sie ließ ihn endlich aus ihren Armen,
nicht mit der wilden Empfindung einer jungen Lieb-
haberinn, ſondern mit der ernſthaften Zaͤrtlichkeit
einer liebreichen Mutter, welche ihren Sohn von
ſich laͤßt, ohne Hoffnung zu haben, ihn wieder zu
ſehen. Die Thraͤnen, die ſie bey dem Abſchiede
vergoß, waren Thraͤnen, welche ſie dem Anden-
ken ſeines Vaters weihte. Der junge Baron
machte es, wie ſein Vater. Er ſetzte ſich auf
ſeine Guͤter, heirathete, und vergaß Brigitten, wel-
che an ihn immer mit Vergnuͤgen, und an ſeinen
Vater nicht ohne Seufzer dachte. Unter einer
bequemen Ruhe, die ſie bey ihrem anſehnlichen
Vermoͤgen ſich verſchaffen konnte, war ſie in ihr
neun und funfzigſtes Jahr getreten, da ſie erfuhr,
daß der Enkel ihres noch angebeteten Barons, und
der Sohn ihres noch unvergeßnen Liebhabers auf
die hohe Schule gekommen ſey. Es gieng ihr
nahe, da man ihr zugleich die Nachricht gab, daß
dieſe Familie durch verſchiednes Ungluͤck in gaͤnz-
lichen Verfall gekommen ſey. Dieſes war eine
Urſache mehr, warum ſie verlangte, den jungen
Baron kennen zu lernen. Sie wollte gegen ſich
ſelbſt eine Liebe verbergen, die bey ihren Jahren
laͤcherlich war: Sie beredete ſich alſo, es ſey nur
ein freundſchaftliches Mitleiden, welches ſie dem
Andenken ſeines Vaters und ſeines Großvaters
ſchuldig ſey. Aber ſie betrog ſich ſelbſt. Es war
die uralte Liebe zu ſeinem Großvater, und die alte

Liebe
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[115/0137] Abhandlung von Spruͤchwoͤrtern. ſahe ſie der Entwickelung ihres Romans ganz ge- laſſen entgegen, und nutzte die kurze Zeit ſehr vor- ſichtig. Sie ließ ihn endlich aus ihren Armen, nicht mit der wilden Empfindung einer jungen Lieb- haberinn, ſondern mit der ernſthaften Zaͤrtlichkeit einer liebreichen Mutter, welche ihren Sohn von ſich laͤßt, ohne Hoffnung zu haben, ihn wieder zu ſehen. Die Thraͤnen, die ſie bey dem Abſchiede vergoß, waren Thraͤnen, welche ſie dem Anden- ken ſeines Vaters weihte. Der junge Baron machte es, wie ſein Vater. Er ſetzte ſich auf ſeine Guͤter, heirathete, und vergaß Brigitten, wel- che an ihn immer mit Vergnuͤgen, und an ſeinen Vater nicht ohne Seufzer dachte. Unter einer bequemen Ruhe, die ſie bey ihrem anſehnlichen Vermoͤgen ſich verſchaffen konnte, war ſie in ihr neun und funfzigſtes Jahr getreten, da ſie erfuhr, daß der Enkel ihres noch angebeteten Barons, und der Sohn ihres noch unvergeßnen Liebhabers auf die hohe Schule gekommen ſey. Es gieng ihr nahe, da man ihr zugleich die Nachricht gab, daß dieſe Familie durch verſchiednes Ungluͤck in gaͤnz- lichen Verfall gekommen ſey. Dieſes war eine Urſache mehr, warum ſie verlangte, den jungen Baron kennen zu lernen. Sie wollte gegen ſich ſelbſt eine Liebe verbergen, die bey ihren Jahren laͤcherlich war: Sie beredete ſich alſo, es ſey nur ein freundſchaftliches Mitleiden, welches ſie dem Andenken ſeines Vaters und ſeines Großvaters ſchuldig ſey. Aber ſie betrog ſich ſelbſt. Es war die uralte Liebe zu ſeinem Großvater, und die alte Liebe H 2

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Zitationshilfe: [Rabener, Gottlieb Wilhelm]: Sammlung satirischer Schriften. Bd. 4. Leipzig, 1755, S. 115. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/rabener_sammlung04_1755/137>, abgerufen am 23.11.2024.