"Es giebt gewisse Vorurtheile, welche durch "die Zeit und Gewohnheit dergestalt ge- "rechtfertiget worden sind, daß es eine "Nothwendigkeit ist, sich ihnen zu unterwerfen, "und daß man von derselben nicht abgehn kann, "ohne sich den Urtheilen der Welt, und vielen dar- "aus erwachsenden Verdrießlichkeiten bloß zu stel- "len. Diese privilegirten Vorurtheile äußern sich "nirgends stärker, als bey den Ehen, wenn eine "von den beiden Personen sich unter ihren Stand "verheirathet. Diese Ungleichheit des Standes "ist sehr schwer zu bestimmen, da gemeiniglich ein "jeder glaubt, er sey besser, als sein Nachbar. "Ein reicher Bauer, der die Tochter eines armen "Taglöhners freyt, wird das ganze Dorf und alle "Bauerpatricien wider sich aufbringen. Die Bür- "ger machen unter sich eine unendliche Abtheilung "der Grade ihres Standes, und sind ganz trost- "los, wenn einer von ihnen diese willkührliche "Rangordnung übertritt. Bey niemanden fällt "es mehr in die Augen, als bey dem Adel. Und "dieser hat, meines Erachtens, auch noch das "meiste Recht, wider solche ungleiche Heira- "then zu eifern, da mit dem Adel verschiedne we- "sentliche Vorzüge verbunden sind, welche durch "dergleichen Verbindungen entweder ganz weg- "fallen, oder doch Verwirrungen machen müssen, "wenn man sich derselben, diesem ungeachtet, fer-
ner
Satyriſche Briefe.
„Es giebt gewiſſe Vorurtheile, welche durch „die Zeit und Gewohnheit dergeſtalt ge- „rechtfertiget worden ſind, daß es eine „Nothwendigkeit iſt, ſich ihnen zu unterwerfen, „und daß man von derſelben nicht abgehn kann, „ohne ſich den Urtheilen der Welt, und vielen dar- „aus erwachſenden Verdrießlichkeiten bloß zu ſtel- „len. Dieſe privilegirten Vorurtheile aͤußern ſich „nirgends ſtaͤrker, als bey den Ehen, wenn eine „von den beiden Perſonen ſich unter ihren Stand „verheirathet. Dieſe Ungleichheit des Standes „iſt ſehr ſchwer zu beſtimmen, da gemeiniglich ein „jeder glaubt, er ſey beſſer, als ſein Nachbar. „Ein reicher Bauer, der die Tochter eines armen „Tagloͤhners freyt, wird das ganze Dorf und alle „Bauerpatricien wider ſich aufbringen. Die Buͤr- „ger machen unter ſich eine unendliche Abtheilung „der Grade ihres Standes, und ſind ganz troſt- „los, wenn einer von ihnen dieſe willkuͤhrliche „Rangordnung uͤbertritt. Bey niemanden faͤllt „es mehr in die Augen, als bey dem Adel. Und „dieſer hat, meines Erachtens, auch noch das „meiſte Recht, wider ſolche ungleiche Heira- „then zu eifern, da mit dem Adel verſchiedne we- „ſentliche Vorzuͤge verbunden ſind, welche durch „dergleichen Verbindungen entweder ganz weg- „fallen, oder doch Verwirrungen machen muͤſſen, „wenn man ſich derſelben, dieſem ungeachtet, fer-
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Satyriſche Briefe.
„Es giebt gewiſſe Vorurtheile, welche durch
„die Zeit und Gewohnheit dergeſtalt ge-
„rechtfertiget worden ſind, daß es eine
„Nothwendigkeit iſt, ſich ihnen zu unterwerfen,
„und daß man von derſelben nicht abgehn kann,
„ohne ſich den Urtheilen der Welt, und vielen dar-
„aus erwachſenden Verdrießlichkeiten bloß zu ſtel-
„len. Dieſe privilegirten Vorurtheile aͤußern ſich
„nirgends ſtaͤrker, als bey den Ehen, wenn eine
„von den beiden Perſonen ſich unter ihren Stand
„verheirathet. Dieſe Ungleichheit des Standes
„iſt ſehr ſchwer zu beſtimmen, da gemeiniglich ein
„jeder glaubt, er ſey beſſer, als ſein Nachbar.
„Ein reicher Bauer, der die Tochter eines armen
„Tagloͤhners freyt, wird das ganze Dorf und alle
„Bauerpatricien wider ſich aufbringen. Die Buͤr-
„ger machen unter ſich eine unendliche Abtheilung
„der Grade ihres Standes, und ſind ganz troſt-
„los, wenn einer von ihnen dieſe willkuͤhrliche
„Rangordnung uͤbertritt. Bey niemanden faͤllt
„es mehr in die Augen, als bey dem Adel. Und
„dieſer hat, meines Erachtens, auch noch das
„meiſte Recht, wider ſolche ungleiche Heira-
„then zu eifern, da mit dem Adel verſchiedne we-
„ſentliche Vorzuͤge verbunden ſind, welche durch
„dergleichen Verbindungen entweder ganz weg-
„fallen, oder doch Verwirrungen machen muͤſſen,
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[Rabener, Gottlieb Wilhelm]: Sammlung satyrischer Schriften. Bd. 3. Leipzig, 1752, S. 367. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/rabener_sammlung03_1752/395>, abgerufen am 23.11.2024.
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