Sie halten es also wirklich für möglich, daß ich wegen meines Schicksals vier Tage in Unge- wißheit, und doch ruhig bleiben könne? Zweymal habe ich vergebeus um die Erlaubniß angesucht, Jhnen aufzuwarten, und da ich mir endlich diese Erlaubniß selbst gegeben: so schienen Sie, Gnädige Tante, über meine Dreistigkeit auf eine ganz unge- wöhnliche Art so misvergnügt, daß mich Jhre ernst- haften Vorwürfe noch unruhiger machten, als ich vorher war. Jch verlange ja nichts mehr zu wis- sen, als dieses, ob ich glücklich, oder unglücklich seyn soll. Jch glaube, diese Frage ist natürlicher Weise für mich so wichtig, daß ich solche thun kann, ohne der Hochachtung zu nahe zu treten, die ich Jh- nen schuldig bin, und ohne die Pflichten zu beleidi- gen, die mein Großvater von mir fodern kann. Wie sehr verbittern Sie mir eine Pflicht, die ich von meiner ersten Kindheit an mit Vergnügen beobachtet habe, und die mir itzt zum erstenmale unerträglich wird, da man sie zu hoch treibt! Jch glaube, Gnädige Tante, mein Großvater und ich sind in diesem Falle als zwo fremde Personen anzu- sehn, wovon eine jede das Recht haben muß, ihre Absichten zu verfolgen, so gut es möglich ist. Und ich glaube, mit Jhrer gnädigen Erlaubniß, daß ich noch mehr Recht dazu habe, als er. Meine Ab- sichten auf das Fräulein sind gewiß älter, als die seinigen, und hat er derselben seine Liebe eher und
deut-
Satyriſche Briefe.
Gnaͤdige Tante,
Sie halten es alſo wirklich fuͤr moͤglich, daß ich wegen meines Schickſals vier Tage in Unge- wißheit, und doch ruhig bleiben koͤnne? Zweymal habe ich vergebeus um die Erlaubniß angeſucht, Jhnen aufzuwarten, und da ich mir endlich dieſe Erlaubniß ſelbſt gegeben: ſo ſchienen Sie, Gnaͤdige Tante, uͤber meine Dreiſtigkeit auf eine ganz unge- woͤhnliche Art ſo misvergnuͤgt, daß mich Jhre ernſt- haften Vorwuͤrfe noch unruhiger machten, als ich vorher war. Jch verlange ja nichts mehr zu wiſ- ſen, als dieſes, ob ich gluͤcklich, oder ungluͤcklich ſeyn ſoll. Jch glaube, dieſe Frage iſt natuͤrlicher Weiſe fuͤr mich ſo wichtig, daß ich ſolche thun kann, ohne der Hochachtung zu nahe zu treten, die ich Jh- nen ſchuldig bin, und ohne die Pflichten zu beleidi- gen, die mein Großvater von mir fodern kann. Wie ſehr verbittern Sie mir eine Pflicht, die ich von meiner erſten Kindheit an mit Vergnuͤgen beobachtet habe, und die mir itzt zum erſtenmale unertraͤglich wird, da man ſie zu hoch treibt! Jch glaube, Gnaͤdige Tante, mein Großvater und ich ſind in dieſem Falle als zwo fremde Perſonen anzu- ſehn, wovon eine jede das Recht haben muß, ihre Abſichten zu verfolgen, ſo gut es moͤglich iſt. Und ich glaube, mit Jhrer gnaͤdigen Erlaubniß, daß ich noch mehr Recht dazu habe, als er. Meine Ab- ſichten auf das Fraͤulein ſind gewiß aͤlter, als die ſeinigen, und hat er derſelben ſeine Liebe eher und
deut-
<TEI><text><body><divn="1"><floatingText><body><pbfacs="#f0324"n="296"/><fwplace="top"type="header"><hirendition="#b">Satyriſche Briefe.</hi></fw><lb/><divtype="letter"><salute><hirendition="#et"><hirendition="#fr">Gnaͤdige Tante,</hi></hi></salute><lb/><p><hirendition="#in">S</hi>ie halten es alſo wirklich fuͤr moͤglich, daß ich<lb/>
wegen meines Schickſals vier Tage in Unge-<lb/>
wißheit, und doch ruhig bleiben koͤnne? Zweymal<lb/>
habe ich vergebeus um die Erlaubniß angeſucht,<lb/>
Jhnen aufzuwarten, und da ich mir endlich dieſe<lb/>
Erlaubniß ſelbſt gegeben: ſo ſchienen Sie, Gnaͤdige<lb/>
Tante, uͤber meine Dreiſtigkeit auf eine ganz unge-<lb/>
woͤhnliche Art ſo misvergnuͤgt, daß mich Jhre ernſt-<lb/>
haften Vorwuͤrfe noch unruhiger machten, als ich<lb/>
vorher war. Jch verlange ja nichts mehr zu wiſ-<lb/>ſen, als dieſes, ob ich gluͤcklich, oder ungluͤcklich<lb/>ſeyn ſoll. Jch glaube, dieſe Frage iſt natuͤrlicher<lb/>
Weiſe fuͤr mich ſo wichtig, daß ich ſolche thun kann,<lb/>
ohne der Hochachtung zu nahe zu treten, die ich Jh-<lb/>
nen ſchuldig bin, und ohne die Pflichten zu beleidi-<lb/>
gen, die mein Großvater von mir fodern kann.<lb/>
Wie ſehr verbittern Sie mir eine Pflicht, die ich<lb/>
von meiner erſten Kindheit an mit Vergnuͤgen<lb/>
beobachtet habe, und die mir itzt zum erſtenmale<lb/>
unertraͤglich wird, da man ſie zu hoch treibt! Jch<lb/>
glaube, Gnaͤdige Tante, mein Großvater und ich<lb/>ſind in dieſem Falle als zwo fremde Perſonen anzu-<lb/>ſehn, wovon eine jede das Recht haben muß, ihre<lb/>
Abſichten zu verfolgen, ſo gut es moͤglich iſt. Und<lb/>
ich glaube, mit Jhrer gnaͤdigen Erlaubniß, daß ich<lb/>
noch mehr Recht dazu habe, als er. Meine Ab-<lb/>ſichten auf das Fraͤulein ſind gewiß aͤlter, als die<lb/>ſeinigen, und hat er derſelben ſeine Liebe eher und<lb/><fwplace="bottom"type="catch">deut-</fw><lb/></p></div></body></floatingText></div></body></text></TEI>
[296/0324]
Satyriſche Briefe.
Gnaͤdige Tante,
Sie halten es alſo wirklich fuͤr moͤglich, daß ich
wegen meines Schickſals vier Tage in Unge-
wißheit, und doch ruhig bleiben koͤnne? Zweymal
habe ich vergebeus um die Erlaubniß angeſucht,
Jhnen aufzuwarten, und da ich mir endlich dieſe
Erlaubniß ſelbſt gegeben: ſo ſchienen Sie, Gnaͤdige
Tante, uͤber meine Dreiſtigkeit auf eine ganz unge-
woͤhnliche Art ſo misvergnuͤgt, daß mich Jhre ernſt-
haften Vorwuͤrfe noch unruhiger machten, als ich
vorher war. Jch verlange ja nichts mehr zu wiſ-
ſen, als dieſes, ob ich gluͤcklich, oder ungluͤcklich
ſeyn ſoll. Jch glaube, dieſe Frage iſt natuͤrlicher
Weiſe fuͤr mich ſo wichtig, daß ich ſolche thun kann,
ohne der Hochachtung zu nahe zu treten, die ich Jh-
nen ſchuldig bin, und ohne die Pflichten zu beleidi-
gen, die mein Großvater von mir fodern kann.
Wie ſehr verbittern Sie mir eine Pflicht, die ich
von meiner erſten Kindheit an mit Vergnuͤgen
beobachtet habe, und die mir itzt zum erſtenmale
unertraͤglich wird, da man ſie zu hoch treibt! Jch
glaube, Gnaͤdige Tante, mein Großvater und ich
ſind in dieſem Falle als zwo fremde Perſonen anzu-
ſehn, wovon eine jede das Recht haben muß, ihre
Abſichten zu verfolgen, ſo gut es moͤglich iſt. Und
ich glaube, mit Jhrer gnaͤdigen Erlaubniß, daß ich
noch mehr Recht dazu habe, als er. Meine Ab-
ſichten auf das Fraͤulein ſind gewiß aͤlter, als die
ſeinigen, und hat er derſelben ſeine Liebe eher und
deut-
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
[Rabener, Gottlieb Wilhelm]: Sammlung satyrischer Schriften. Bd. 3. Leipzig, 1752, S. 296. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/rabener_sammlung03_1752/324>, abgerufen am 22.12.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.