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[Rabener, Gottlieb Wilhelm]: Sammlung satyrischer Schriften. Bd. 3. Leipzig, 1752.

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Satyrische Briefe.
Eurer Demüthigung auslegen, wie Jhr wollt.
Sie las Euern Brief einmal, sie las ihn zweymal
durch, sie schüttelte mit dem Kopfe. Vormund-
schaftsrechnungen? sagte sie, von dem Herrn
Großvater? durch Jhren Vetter? Einen Brief,
wie diesen? Davon verstehe ich nicht ein Wort,
Madame, und gab mir den Brief in die Hände.
Sie schien bestürzt, aber doch schien sie nicht un-
willig zu seyn. Sie lächelte, als sie mir den
Brief gab. Ein Frauenzimmer, das bey einem
Briefe von einem jungen Herrn lächelt, ist so gar
erbittert nicht! Merkt Euch dieß, Vetter. Mit
Euerm Briefe war ich geschwind fertig. Jch gab
auf ihre Augen acht, und wartete, was sie für
Minen bey dem Briefe von unserm Vater machen
würde. Sie erblaßte. Der Brief zitterte in ih-
rer Hand, sie stund auf, trat ans Fenster, und
steckte den Brief ein, ohne ein Wort zu sagen.
Jch ließ ihr ein wenig Zeit, sich zu erholen. Wie
stehts, Fräulein, sagte ich endlich, sind die Nach-
richten von den Vormundschaftssachen so verdrieß-
lich? Wie kommen sie mir vor? Alles was sie
mir antwortete, war dieses, daß sie zu mir kam,
mir die Hand drückte, und Thränen in den Augen
hatte. Morgen sollen Sie alles erfahren, Ma-
dame; ich bin ganz ausser mir; ich brauche Jhre
Freundschaft itzt mehr, als iemals. Jch schreibe
Jhnen morgen; heute kann ich nicht ein Wort sa-
gen. Bleiben Sie meine Freundinn, verlassen
sie mich nicht. Sie war so bewegt, daß es mir

selbst

Satyriſche Briefe.
Eurer Demuͤthigung auslegen, wie Jhr wollt.
Sie las Euern Brief einmal, ſie las ihn zweymal
durch, ſie ſchuͤttelte mit dem Kopfe. Vormund-
ſchaftsrechnungen? ſagte ſie, von dem Herrn
Großvater? durch Jhren Vetter? Einen Brief,
wie dieſen? Davon verſtehe ich nicht ein Wort,
Madame, und gab mir den Brief in die Haͤnde.
Sie ſchien beſtuͤrzt, aber doch ſchien ſie nicht un-
willig zu ſeyn. Sie laͤchelte, als ſie mir den
Brief gab. Ein Frauenzimmer, das bey einem
Briefe von einem jungen Herrn laͤchelt, iſt ſo gar
erbittert nicht! Merkt Euch dieß, Vetter. Mit
Euerm Briefe war ich geſchwind fertig. Jch gab
auf ihre Augen acht, und wartete, was ſie fuͤr
Minen bey dem Briefe von unſerm Vater machen
wuͤrde. Sie erblaßte. Der Brief zitterte in ih-
rer Hand, ſie ſtund auf, trat ans Fenſter, und
ſteckte den Brief ein, ohne ein Wort zu ſagen.
Jch ließ ihr ein wenig Zeit, ſich zu erholen. Wie
ſtehts, Fraͤulein, ſagte ich endlich, ſind die Nach-
richten von den Vormundſchaftsſachen ſo verdrieß-
lich? Wie kommen ſie mir vor? Alles was ſie
mir antwortete, war dieſes, daß ſie zu mir kam,
mir die Hand druͤckte, und Thraͤnen in den Augen
hatte. Morgen ſollen Sie alles erfahren, Ma-
dame; ich bin ganz auſſer mir; ich brauche Jhre
Freundſchaft itzt mehr, als iemals. Jch ſchreibe
Jhnen morgen; heute kann ich nicht ein Wort ſa-
gen. Bleiben Sie meine Freundinn, verlaſſen
ſie mich nicht. Sie war ſo bewegt, daß es mir

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[287/0315] Satyriſche Briefe. Eurer Demuͤthigung auslegen, wie Jhr wollt. Sie las Euern Brief einmal, ſie las ihn zweymal durch, ſie ſchuͤttelte mit dem Kopfe. Vormund- ſchaftsrechnungen? ſagte ſie, von dem Herrn Großvater? durch Jhren Vetter? Einen Brief, wie dieſen? Davon verſtehe ich nicht ein Wort, Madame, und gab mir den Brief in die Haͤnde. Sie ſchien beſtuͤrzt, aber doch ſchien ſie nicht un- willig zu ſeyn. Sie laͤchelte, als ſie mir den Brief gab. Ein Frauenzimmer, das bey einem Briefe von einem jungen Herrn laͤchelt, iſt ſo gar erbittert nicht! Merkt Euch dieß, Vetter. Mit Euerm Briefe war ich geſchwind fertig. Jch gab auf ihre Augen acht, und wartete, was ſie fuͤr Minen bey dem Briefe von unſerm Vater machen wuͤrde. Sie erblaßte. Der Brief zitterte in ih- rer Hand, ſie ſtund auf, trat ans Fenſter, und ſteckte den Brief ein, ohne ein Wort zu ſagen. Jch ließ ihr ein wenig Zeit, ſich zu erholen. Wie ſtehts, Fraͤulein, ſagte ich endlich, ſind die Nach- richten von den Vormundſchaftsſachen ſo verdrieß- lich? Wie kommen ſie mir vor? Alles was ſie mir antwortete, war dieſes, daß ſie zu mir kam, mir die Hand druͤckte, und Thraͤnen in den Augen hatte. Morgen ſollen Sie alles erfahren, Ma- dame; ich bin ganz auſſer mir; ich brauche Jhre Freundſchaft itzt mehr, als iemals. Jch ſchreibe Jhnen morgen; heute kann ich nicht ein Wort ſa- gen. Bleiben Sie meine Freundinn, verlaſſen ſie mich nicht. Sie war ſo bewegt, daß es mir ſelbſt

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Zitationshilfe: [Rabener, Gottlieb Wilhelm]: Sammlung satyrischer Schriften. Bd. 3. Leipzig, 1752, S. 287. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/rabener_sammlung03_1752/315>, abgerufen am 27.11.2024.