Habt Jhr denn Euern Brief an das Fräulein wieder durchgelesen, ehe Jhr Jhn zugesiegelt? Gewiß, Vetter, so verwirrt schreibt man nur im hitzigen Fieber. Bald fange ich an, Euch im Ernste zu bedauern. War das der gleichgültige Brief, den Jhr an das Fräulein schreiben wolltet? Jch glaube, eine förmliche Liebeserklärung hätte nicht wunderbarer seyn können; wenigstens ist die- ses gewiß, daß wohl noch niemals eine Vormund- schaftsrechnung mit einer so zärtlichen Verwirrung übergeben worden ist. Der Großvater hat sich schlecht vorgesehn, daß er Euch zum Postillion angenommen; und Jhr hättet entweder dieses Ge- schäffte gar verbitten, oder gegen den Großvater billiger seyn sollen. Zu Eurer Bestrafung möch- te ich Euch bey nahe nicht sagen, was Euer Brief für eine Wirkung gethan hat. Das Fräulein er- brach ihn in meiner Gegenwart. Es war schon spät, da er ankam; denn eine Vormundschafts- rechnung zu übersenden, und seine Meynung so deutlich vorzutragen, wie Jhr gethan habt, dazu gehört freylich Ueberlegung und Zeit, und es war immer noch viel, daß Jhr Abends um neun Uhr fertig werden können. So bald sie Eure Unter- schrift sahe, stutzte sie. Ein Brief von Jhrem Vetter, Madame, sagte sie, und ward roth. Merkt wohl auf diesen Umstand, Vetter, Jhr könnt ihn so wohl zu Eurer Beruhigung, als zu
Eurer
Satyriſche Briefe.
Vetter,
Habt Jhr denn Euern Brief an das Fraͤulein wieder durchgeleſen, ehe Jhr Jhn zugeſiegelt? Gewiß, Vetter, ſo verwirrt ſchreibt man nur im hitzigen Fieber. Bald fange ich an, Euch im Ernſte zu bedauern. War das der gleichguͤltige Brief, den Jhr an das Fraͤulein ſchreiben wolltet? Jch glaube, eine foͤrmliche Liebeserklaͤrung haͤtte nicht wunderbarer ſeyn koͤnnen; wenigſtens iſt die- ſes gewiß, daß wohl noch niemals eine Vormund- ſchaftsrechnung mit einer ſo zaͤrtlichen Verwirrung uͤbergeben worden iſt. Der Großvater hat ſich ſchlecht vorgeſehn, daß er Euch zum Poſtillion angenommen; und Jhr haͤttet entweder dieſes Ge- ſchaͤffte gar verbitten, oder gegen den Großvater billiger ſeyn ſollen. Zu Eurer Beſtrafung moͤch- te ich Euch bey nahe nicht ſagen, was Euer Brief fuͤr eine Wirkung gethan hat. Das Fraͤulein er- brach ihn in meiner Gegenwart. Es war ſchon ſpaͤt, da er ankam; denn eine Vormundſchafts- rechnung zu uͤberſenden, und ſeine Meynung ſo deutlich vorzutragen, wie Jhr gethan habt, dazu gehoͤrt freylich Ueberlegung und Zeit, und es war immer noch viel, daß Jhr Abends um neun Uhr fertig werden koͤnnen. So bald ſie Eure Unter- ſchrift ſahe, ſtutzte ſie. Ein Brief von Jhrem Vetter, Madame, ſagte ſie, und ward roth. Merkt wohl auf dieſen Umſtand, Vetter, Jhr koͤnnt ihn ſo wohl zu Eurer Beruhigung, als zu
Eurer
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Satyriſche Briefe.
Vetter,
Habt Jhr denn Euern Brief an das Fraͤulein
wieder durchgeleſen, ehe Jhr Jhn zugeſiegelt?
Gewiß, Vetter, ſo verwirrt ſchreibt man nur im
hitzigen Fieber. Bald fange ich an, Euch im
Ernſte zu bedauern. War das der gleichguͤltige
Brief, den Jhr an das Fraͤulein ſchreiben wolltet?
Jch glaube, eine foͤrmliche Liebeserklaͤrung haͤtte
nicht wunderbarer ſeyn koͤnnen; wenigſtens iſt die-
ſes gewiß, daß wohl noch niemals eine Vormund-
ſchaftsrechnung mit einer ſo zaͤrtlichen Verwirrung
uͤbergeben worden iſt. Der Großvater hat ſich
ſchlecht vorgeſehn, daß er Euch zum Poſtillion
angenommen; und Jhr haͤttet entweder dieſes Ge-
ſchaͤffte gar verbitten, oder gegen den Großvater
billiger ſeyn ſollen. Zu Eurer Beſtrafung moͤch-
te ich Euch bey nahe nicht ſagen, was Euer Brief
fuͤr eine Wirkung gethan hat. Das Fraͤulein er-
brach ihn in meiner Gegenwart. Es war ſchon
ſpaͤt, da er ankam; denn eine Vormundſchafts-
rechnung zu uͤberſenden, und ſeine Meynung ſo
deutlich vorzutragen, wie Jhr gethan habt, dazu
gehoͤrt freylich Ueberlegung und Zeit, und es war
immer noch viel, daß Jhr Abends um neun Uhr
fertig werden koͤnnen. So bald ſie Eure Unter-
ſchrift ſahe, ſtutzte ſie. Ein Brief von Jhrem
Vetter, Madame, ſagte ſie, und ward roth.
Merkt wohl auf dieſen Umſtand, Vetter, Jhr
koͤnnt ihn ſo wohl zu Eurer Beruhigung, als zu
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[Rabener, Gottlieb Wilhelm]: Sammlung satyrischer Schriften. Bd. 3. Leipzig, 1752, S. 286. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/rabener_sammlung03_1752/314>, abgerufen am 20.11.2024.
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