"Die große Hälfte des menschlichen Ge- "schlechts liebt gemeiniglich in jungen "Jahren von ganzem Herzen und när- "risch, in reifen Jahren eigennützig, und im Alter "lächerlich. Es gehört keine große Philosophie da- "zu, diese Wahrheit einzusehn. Man darf nur "ein wenig auf die Handlungen der Menschen, "und, wenn man recht gründlich davon überzeugt "seyn will, vornehmlich auf sich selbst Achtung ge- "ben Eine kleine Untersuchung seiner eignen "Neigungen wird machen, daß man von den Feh- "lern andrer gelinder urtheilt. Jch will hier mei- "nen Lesern einige Briefe vorlegen, in denen der "Charakter eines zärtlichen Greises der wilden "und unruhigen Liebe eines jungen Menschen ent- "gegen gesetzt ist. An beiden sieht man den "Grund eines ehrlichen Herzens, und einer edlen "Denkungsart. Bey allen dem Lächerlichen, das "sie durch ihre Leidenschaften verrathen, verdie- "nen sie einige Nachsicht. Jch wünsche, daß mei- "ne alten Leser eben so anständig fehlen mögen, "wenn sie ja die Liebe einmal überraschen sollte. "Meine jungen Leser können sich die Hochachtung "der Welt gewiß versprechen, wenn sie das Herz "haben, von ihren flüchtigen Ausschweifungen, so "geschwind, wie mein Original, zu ihrer Schul- "digkeit zurück zu kehren. Lächerliche Exempel "erbauen nicht allemal so sehr, als tugendhafte.
Die-
S 3
Satyriſche Briefe.
„Die große Haͤlfte des menſchlichen Ge- „ſchlechts liebt gemeiniglich in jungen „Jahren von ganzem Herzen und naͤr- „riſch, in reifen Jahren eigennuͤtzig, und im Alter „laͤcherlich. Es gehoͤrt keine große Philoſophie da- „zu, dieſe Wahrheit einzuſehn. Man darf nur „ein wenig auf die Handlungen der Menſchen, „und, wenn man recht gruͤndlich davon uͤberzeugt „ſeyn will, vornehmlich auf ſich ſelbſt Achtung ge- „ben Eine kleine Unterſuchung ſeiner eignen „Neigungen wird machen, daß man von den Feh- „lern andrer gelinder urtheilt. Jch will hier mei- „nen Leſern einige Briefe vorlegen, in denen der „Charakter eines zaͤrtlichen Greiſes der wilden „und unruhigen Liebe eines jungen Menſchen ent- „gegen geſetzt iſt. An beiden ſieht man den „Grund eines ehrlichen Herzens, und einer edlen „Denkungsart. Bey allen dem Laͤcherlichen, das „ſie durch ihre Leidenſchaften verrathen, verdie- „nen ſie einige Nachſicht. Jch wuͤnſche, daß mei- „ne alten Leſer eben ſo anſtaͤndig fehlen moͤgen, „wenn ſie ja die Liebe einmal uͤberraſchen ſollte. „Meine jungen Leſer koͤnnen ſich die Hochachtung „der Welt gewiß verſprechen, wenn ſie das Herz „haben, von ihren fluͤchtigen Ausſchweifungen, ſo „geſchwind, wie mein Original, zu ihrer Schul- „digkeit zuruͤck zu kehren. Laͤcherliche Exempel „erbauen nicht allemal ſo ſehr, als tugendhafte.
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Satyriſche Briefe.
„Die große Haͤlfte des menſchlichen Ge-
„ſchlechts liebt gemeiniglich in jungen
„Jahren von ganzem Herzen und naͤr-
„riſch, in reifen Jahren eigennuͤtzig, und im Alter
„laͤcherlich. Es gehoͤrt keine große Philoſophie da-
„zu, dieſe Wahrheit einzuſehn. Man darf nur
„ein wenig auf die Handlungen der Menſchen,
„und, wenn man recht gruͤndlich davon uͤberzeugt
„ſeyn will, vornehmlich auf ſich ſelbſt Achtung ge-
„ben Eine kleine Unterſuchung ſeiner eignen
„Neigungen wird machen, daß man von den Feh-
„lern andrer gelinder urtheilt. Jch will hier mei-
„nen Leſern einige Briefe vorlegen, in denen der
„Charakter eines zaͤrtlichen Greiſes der wilden
„und unruhigen Liebe eines jungen Menſchen ent-
„gegen geſetzt iſt. An beiden ſieht man den
„Grund eines ehrlichen Herzens, und einer edlen
„Denkungsart. Bey allen dem Laͤcherlichen, das
„ſie durch ihre Leidenſchaften verrathen, verdie-
„nen ſie einige Nachſicht. Jch wuͤnſche, daß mei-
„ne alten Leſer eben ſo anſtaͤndig fehlen moͤgen,
„wenn ſie ja die Liebe einmal uͤberraſchen ſollte.
„Meine jungen Leſer koͤnnen ſich die Hochachtung
„der Welt gewiß verſprechen, wenn ſie das Herz
„haben, von ihren fluͤchtigen Ausſchweifungen, ſo
„geſchwind, wie mein Original, zu ihrer Schul-
„digkeit zuruͤck zu kehren. Laͤcherliche Exempel
„erbauen nicht allemal ſo ſehr, als tugendhafte.
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[Rabener, Gottlieb Wilhelm]: Sammlung satyrischer Schriften. Bd. 3. Leipzig, 1752, S. 277. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/rabener_sammlung03_1752/305>, abgerufen am 27.11.2024.
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