Die zweyte Fabel, noch etwas unwahrscheinlicher, als die vorige.
Die reiche Wittwe, eine gute Frau.
Philinde, eine junge Wittwe, welche den Neran durch ihr zugebrachtes Vermögen zum reich- sten Manne in der Stadt gemacht hatte, liebte ihn so zärtlich, daß sie ihm auch nicht ein einzigmal seine Armuth vorwarf. Sie trug so viel Ehrfurcht ge- gen ihn, daß es schiene, als hätte sie beynahe gar vergessen, wie groß ihr Einbringen wäre. Konnte sie ja etwas betrüben: So war es die große Behut- samkeit, mit welcher Neran sich ihres Vermögens bediente. Sie munterte ihn auf, für sich etwas weniger sparsam zu seyn; und brauchte sie selbst ei- niges Geld, so bat sie ihren Mann mit so vielen Liebkosungen darum, als wäre es sein eignes Ver- mögen. Neran starb, und die Chronike sagt, daß sie alle Jahre an demjenigen Tage ganz untröstbar gewesen, an welchem er gestorben. Ja man will so gar versichern, daß sie über diesen Verlust sich niemals zufriedner zu trösten gewußt, als wenn sie den armen Freunden ihres verstorbnen Mannes mit ih- rem Vermögen beyspringen können. Niemals ha- be sie dieses anders genennt, als die Verlassenschaft ihres Nerans, an welche alle seine Verwandten An- spruch zu machen hätten, welche desselben bedürftig wären. So weit geht diese Fabel.
Die
zum deutſchen Woͤrterbuche.
Die zweyte Fabel, noch etwas unwahrſcheinlicher, als die vorige.
Die reiche Wittwe, eine gute Frau.
Philinde, eine junge Wittwe, welche den Neran durch ihr zugebrachtes Vermoͤgen zum reich- ſten Manne in der Stadt gemacht hatte, liebte ihn ſo zaͤrtlich, daß ſie ihm auch nicht ein einzigmal ſeine Armuth vorwarf. Sie trug ſo viel Ehrfurcht ge- gen ihn, daß es ſchiene, als haͤtte ſie beynahe gar vergeſſen, wie groß ihr Einbringen waͤre. Konnte ſie ja etwas betruͤben: So war es die große Behut- ſamkeit, mit welcher Neran ſich ihres Vermoͤgens bediente. Sie munterte ihn auf, fuͤr ſich etwas weniger ſparſam zu ſeyn; und brauchte ſie ſelbſt ei- niges Geld, ſo bat ſie ihren Mann mit ſo vielen Liebkoſungen darum, als waͤre es ſein eignes Ver- moͤgen. Neran ſtarb, und die Chronike ſagt, daß ſie alle Jahre an demjenigen Tage ganz untroͤſtbar geweſen, an welchem er geſtorben. Ja man will ſo gar verſichern, daß ſie uͤber dieſen Verluſt ſich niemals zufriedner zu troͤſten gewußt, als wenn ſie den armen Freunden ihres verſtorbnen Mannes mit ih- rem Vermoͤgen beyſpringen koͤnnen. Niemals ha- be ſie dieſes anders genennt, als die Verlaſſenſchaft ihres Nerans, an welche alle ſeine Verwandten An- ſpruch zu machen haͤtten, welche deſſelben beduͤrftig waͤren. So weit geht dieſe Fabel.
Die
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zum deutſchen Woͤrterbuche.
Die zweyte Fabel,
noch etwas unwahrſcheinlicher, als die vorige.
Die reiche Wittwe, eine gute Frau.
Philinde, eine junge Wittwe, welche den Neran
durch ihr zugebrachtes Vermoͤgen zum reich-
ſten Manne in der Stadt gemacht hatte, liebte ihn
ſo zaͤrtlich, daß ſie ihm auch nicht ein einzigmal ſeine
Armuth vorwarf. Sie trug ſo viel Ehrfurcht ge-
gen ihn, daß es ſchiene, als haͤtte ſie beynahe gar
vergeſſen, wie groß ihr Einbringen waͤre. Konnte
ſie ja etwas betruͤben: So war es die große Behut-
ſamkeit, mit welcher Neran ſich ihres Vermoͤgens
bediente. Sie munterte ihn auf, fuͤr ſich etwas
weniger ſparſam zu ſeyn; und brauchte ſie ſelbſt ei-
niges Geld, ſo bat ſie ihren Mann mit ſo vielen
Liebkoſungen darum, als waͤre es ſein eignes Ver-
moͤgen. Neran ſtarb, und die Chronike ſagt, daß
ſie alle Jahre an demjenigen Tage ganz untroͤſtbar
geweſen, an welchem er geſtorben. Ja man will
ſo gar verſichern, daß ſie uͤber dieſen Verluſt ſich
niemals zufriedner zu troͤſten gewußt, als wenn ſie den
armen Freunden ihres verſtorbnen Mannes mit ih-
rem Vermoͤgen beyſpringen koͤnnen. Niemals ha-
be ſie dieſes anders genennt, als die Verlaſſenſchaft
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waͤren. So weit geht dieſe Fabel.
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[Rabener, Gottlieb Wilhelm]: Sammlung satyrischer Schriften. Bd. 2. Leipzig, 1751, S. 219. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/rabener_sammlung02_1751/219>, abgerufen am 22.02.2025.
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