Agenor, ein reicher Bürger, lernte ein Frauen- zimmer kennen, welches weder Schönheit, noch Vermögen hatte, aber desto tugendhafter war. Bloß ihrer Tugend wegen liebte er sie. Er heirathete sie, und die ganze Stadt lobte seine Wahl; denn die meisten Bürger dieser Stadt wa- ren tugendhaft, und keiner heirathete aus eigennü- tzigen und niederträchtigen Absichten. Zwanzig Jahre ihrer Ehe waren verflossen, und nicht ein ein- zigesmal hatten sie einander Gelegenheit zu einem Misvergnügen gegeben. Noch im zwanzigsten Jahre liebten sie einander eben so vernünftig, eben so zärtlich, als an dem Tage ihrer Verlobung. Auf diesen Umstand werden meine Leser ja wohl merken, denn das ist eine Hauptfabel. Agenor verlor seine Frau, welche bloß um deswillen schwer zu sterben schien, weil sie sich von ihrem Man- ne trennen sollte. Zehen Monate hat Agenor zu- gebracht, ehe er sich einigermaaßen trösten, und zu einer neuen Heirath entschließen konnte. An fünf Monaten wäre es schon genug gewesen: aber zu einer Fabel mußten es schlechterdings zehen Monate seyn.
[Abbildung]
Die
Beytrag
Die erſte Fabel.
Der betruͤbte Wittwer.
Agenor, ein reicher Buͤrger, lernte ein Frauen- zimmer kennen, welches weder Schoͤnheit, noch Vermoͤgen hatte, aber deſto tugendhafter war. Bloß ihrer Tugend wegen liebte er ſie. Er heirathete ſie, und die ganze Stadt lobte ſeine Wahl; denn die meiſten Buͤrger dieſer Stadt wa- ren tugendhaft, und keiner heirathete aus eigennuͤ- tzigen und niedertraͤchtigen Abſichten. Zwanzig Jahre ihrer Ehe waren verfloſſen, und nicht ein ein- zigesmal hatten ſie einander Gelegenheit zu einem Misvergnuͤgen gegeben. Noch im zwanzigſten Jahre liebten ſie einander eben ſo vernuͤnftig, eben ſo zaͤrtlich, als an dem Tage ihrer Verlobung. Auf dieſen Umſtand werden meine Leſer ja wohl merken, denn das iſt eine Hauptfabel. Agenor verlor ſeine Frau, welche bloß um deswillen ſchwer zu ſterben ſchien, weil ſie ſich von ihrem Man- ne trennen ſollte. Zehen Monate hat Agenor zu- gebracht, ehe er ſich einigermaaßen troͤſten, und zu einer neuen Heirath entſchließen konnte. An fuͤnf Monaten waͤre es ſchon genug geweſen: aber zu einer Fabel mußten es ſchlechterdings zehen Monate ſeyn.
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Die
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Beytrag
Die erſte Fabel.
Der betruͤbte Wittwer.
Agenor, ein reicher Buͤrger, lernte ein Frauen-
zimmer kennen, welches weder Schoͤnheit,
noch Vermoͤgen hatte, aber deſto tugendhafter war.
Bloß ihrer Tugend wegen liebte er ſie. Er
heirathete ſie, und die ganze Stadt lobte ſeine
Wahl; denn die meiſten Buͤrger dieſer Stadt wa-
ren tugendhaft, und keiner heirathete aus eigennuͤ-
tzigen und niedertraͤchtigen Abſichten. Zwanzig
Jahre ihrer Ehe waren verfloſſen, und nicht ein ein-
zigesmal hatten ſie einander Gelegenheit zu einem
Misvergnuͤgen gegeben. Noch im zwanzigſten
Jahre liebten ſie einander eben ſo vernuͤnftig, eben
ſo zaͤrtlich, als an dem Tage ihrer Verlobung.
Auf dieſen Umſtand werden meine Leſer ja wohl
merken, denn das iſt eine Hauptfabel. Agenor
verlor ſeine Frau, welche bloß um deswillen
ſchwer zu ſterben ſchien, weil ſie ſich von ihrem Man-
ne trennen ſollte. Zehen Monate hat Agenor zu-
gebracht, ehe er ſich einigermaaßen troͤſten, und
zu einer neuen Heirath entſchließen konnte. An
fuͤnf Monaten waͤre es ſchon genug geweſen: aber
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zehen Monate ſeyn.
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[Rabener, Gottlieb Wilhelm]: Sammlung satyrischer Schriften. Bd. 2. Leipzig, 1751, S. 218. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/rabener_sammlung02_1751/218>, abgerufen am 22.02.2025.
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