das Original durch viele fremde Züge unkenntlich, und zu einem neuen Originale geworden ist.
Jch bin diese Vorsicht meiner Pflicht und der allgemeinen Menschenliebe schuldig gewesen. Desto weniger aber können es diejenigen neugierigen Leser verantworten, welche so vorwitzig sind, und zu die- sen allgemeinen Charakteren dennoch gewisse Per- sonen aussuchen, welche darunter gemeynt seyn sollen. Es ist dieses ein sehr gewöhnlicher Fehler der Men- schen. Darf ich es wohl sagen, woher es rührt? Wir haben die ungerechten Begriffe von der Sa- tyre, daß sie nicht so wohl auf die Fehler der Men- schen, als auf die Personen, gehen soll. Wir suchen daher Personen, so bald wir eine Satyre in die Hände bekommen. Es ist eine gewisse Bosheit in uns, die uns in einer beständigen Beschäfftigung erhält, die Fehler andrer auszuspähen. Wir freuen nus, wenn andre lächerlich gemacht werden, denn wir sind sehr geneigt, mehr über die Fehler andrer zu lachen, als über ihre Tugend uns zu freuen. Mit- ten unter diesen Entdeckungen sind wir ruhig, daß nicht wir, wir tugendhaften Leute, sondern unser närrischer Nachbar gemeynt ist. Könnten wir wohl so ruhig seyn, wenn wir nicht zu viel thörichte Eigenliebe besäßen? Vielleicht glaubt unser Nach-
bar,
Vorbericht.
das Original durch viele fremde Zuͤge unkenntlich, und zu einem neuen Originale geworden iſt.
Jch bin dieſe Vorſicht meiner Pflicht und der allgemeinen Menſchenliebe ſchuldig geweſen. Deſto weniger aber koͤnnen es diejenigen neugierigen Leſer verantworten, welche ſo vorwitzig ſind, und zu die- ſen allgemeinen Charakteren dennoch gewiſſe Per- ſonen ausſuchen, welche darunter gemeynt ſeyn ſollen. Es iſt dieſes ein ſehr gewoͤhnlicher Fehler der Men- ſchen. Darf ich es wohl ſagen, woher es ruͤhrt? Wir haben die ungerechten Begriffe von der Sa- tyre, daß ſie nicht ſo wohl auf die Fehler der Men- ſchen, als auf die Perſonen, gehen ſoll. Wir ſuchen daher Perſonen, ſo bald wir eine Satyre in die Haͤnde bekommen. Es iſt eine gewiſſe Bosheit in uns, die uns in einer beſtaͤndigen Beſchaͤfftigung erhaͤlt, die Fehler andrer auszuſpaͤhen. Wir freuen nus, wenn andre laͤcherlich gemacht werden, denn wir ſind ſehr geneigt, mehr uͤber die Fehler andrer zu lachen, als uͤber ihre Tugend uns zu freuen. Mit- ten unter dieſen Entdeckungen ſind wir ruhig, daß nicht wir, wir tugendhaften Leute, ſondern unſer naͤrriſcher Nachbar gemeynt iſt. Koͤnnten wir wohl ſo ruhig ſeyn, wenn wir nicht zu viel thoͤrichte Eigenliebe beſaͤßen? Vielleicht glaubt unſer Nach-
bar,
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Vorbericht.
das Original durch viele fremde Zuͤge unkenntlich,
und zu einem neuen Originale geworden iſt.
Jch bin dieſe Vorſicht meiner Pflicht und der
allgemeinen Menſchenliebe ſchuldig geweſen. Deſto
weniger aber koͤnnen es diejenigen neugierigen Leſer
verantworten, welche ſo vorwitzig ſind, und zu die-
ſen allgemeinen Charakteren dennoch gewiſſe Per-
ſonen ausſuchen, welche darunter gemeynt ſeyn ſollen.
Es iſt dieſes ein ſehr gewoͤhnlicher Fehler der Men-
ſchen. Darf ich es wohl ſagen, woher es ruͤhrt?
Wir haben die ungerechten Begriffe von der Sa-
tyre, daß ſie nicht ſo wohl auf die Fehler der Men-
ſchen, als auf die Perſonen, gehen ſoll. Wir ſuchen
daher Perſonen, ſo bald wir eine Satyre in die
Haͤnde bekommen. Es iſt eine gewiſſe Bosheit in
uns, die uns in einer beſtaͤndigen Beſchaͤfftigung
erhaͤlt, die Fehler andrer auszuſpaͤhen. Wir freuen
nus, wenn andre laͤcherlich gemacht werden, denn wir
ſind ſehr geneigt, mehr uͤber die Fehler andrer zu
lachen, als uͤber ihre Tugend uns zu freuen. Mit-
ten unter dieſen Entdeckungen ſind wir ruhig, daß
nicht wir, wir tugendhaften Leute, ſondern unſer
naͤrriſcher Nachbar gemeynt iſt. Koͤnnten wir
wohl ſo ruhig ſeyn, wenn wir nicht zu viel thoͤrichte
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[Rabener, Gottlieb Wilhelm]: Sammlung satyrischer Schriften. Bd. 1. Leipzig, 1751, S. 43. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/rabener_sammlung01_1751/43>, abgerufen am 16.02.2025.
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