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[Rabener, Gottlieb Wilhelm]: Sammlung satyrischer Schriften. Bd. 1. Leipzig, 1751.

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Eine Todtenliste.

Ursel Sigrid. Wollte künftig jemand die Ge-
müthsbeschaffenheit dieser Frau beschreiben, der wür-
de in einer Person so viele verwirrte, und einander
entgegen laufende Charaktere finden, daß es un-
möglich scheint, dieselben auseinander zu wickeln,
wofern man nicht in ihrem Lebenslaufe besonders
drey Zeitpunkte fest setzt.

Der erste geht bis in ihr dreyßigstes Jahr.
Was die Ausländer galant, und wir nach unsrer
einfältigen Muttersprache verbult nennen, das
fand man damals in der größten Vollkommenheit
an ihr. Jhr Haus wimmelte von jungen Herren,
die daselbst zusammen kamen, ihre verliebte Andacht
zu verrichten, welche in einer sehr strengen Abgöt-
terey bestund. Sie ließ sich anbeten, und schien
doch unempfindlich dabey zu seyn. Man mochte
sie einen Tieger, oder einen Engel, ihre Augen Son-
nen oder donnerschwangre Wolken heißen, ihre
Brust mit hartem Marmor, oder mit kaltem Schnee
vergleichen; bey allem that sie gleichgültig. Die
Seufzer ihrer Anbeter bewegten sie nicht; sie sah
dieselben als einen Tribut an, welche ihr ihre Skla-
ven schuldig wären, und diese hielten es schon für
ein großes Glück, wenn sie nur in ihrer Gegenwart
seufzen konnten. Viele brachte diese angenomme-
ne Sprödigkeit beynahe zur Verzweiflung. Sie
schwuren, daß sie nicht länger leben wollten, rede-
ten von Gift und Dolche; sie leben aber noch alle,
dem Himmel sey Dank, bis auf diese Stunde frisch
und gesund. Man wird an dieser Erzählung kei-
nen Zweifel tragen, wenn ich versichre, daß ich in

meiner
Eine Todtenliſte.

Urſel Sigrid. Wollte kuͤnftig jemand die Ge-
muͤthsbeſchaffenheit dieſer Frau beſchreiben, der wuͤr-
de in einer Perſon ſo viele verwirrte, und einander
entgegen laufende Charaktere finden, daß es un-
moͤglich ſcheint, dieſelben auseinander zu wickeln,
wofern man nicht in ihrem Lebenslaufe beſonders
drey Zeitpunkte feſt ſetzt.

Der erſte geht bis in ihr dreyßigſtes Jahr.
Was die Auslaͤnder galant, und wir nach unſrer
einfaͤltigen Mutterſprache verbult nennen, das
fand man damals in der groͤßten Vollkommenheit
an ihr. Jhr Haus wimmelte von jungen Herren,
die daſelbſt zuſammen kamen, ihre verliebte Andacht
zu verrichten, welche in einer ſehr ſtrengen Abgoͤt-
terey beſtund. Sie ließ ſich anbeten, und ſchien
doch unempfindlich dabey zu ſeyn. Man mochte
ſie einen Tieger, oder einen Engel, ihre Augen Son-
nen oder donnerſchwangre Wolken heißen, ihre
Bruſt mit hartem Marmor, oder mit kaltem Schnee
vergleichen; bey allem that ſie gleichguͤltig. Die
Seufzer ihrer Anbeter bewegten ſie nicht; ſie ſah
dieſelben als einen Tribut an, welche ihr ihre Skla-
ven ſchuldig waͤren, und dieſe hielten es ſchon fuͤr
ein großes Gluͤck, wenn ſie nur in ihrer Gegenwart
ſeufzen konnten. Viele brachte dieſe angenomme-
ne Sproͤdigkeit beynahe zur Verzweiflung. Sie
ſchwuren, daß ſie nicht laͤnger leben wollten, rede-
ten von Gift und Dolche; ſie leben aber noch alle,
dem Himmel ſey Dank, bis auf dieſe Stunde friſch
und geſund. Man wird an dieſer Erzaͤhlung kei-
nen Zweifel tragen, wenn ich verſichre, daß ich in

meiner
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[172/0246] Eine Todtenliſte. Urſel Sigrid. Wollte kuͤnftig jemand die Ge- muͤthsbeſchaffenheit dieſer Frau beſchreiben, der wuͤr- de in einer Perſon ſo viele verwirrte, und einander entgegen laufende Charaktere finden, daß es un- moͤglich ſcheint, dieſelben auseinander zu wickeln, wofern man nicht in ihrem Lebenslaufe beſonders drey Zeitpunkte feſt ſetzt. Der erſte geht bis in ihr dreyßigſtes Jahr. Was die Auslaͤnder galant, und wir nach unſrer einfaͤltigen Mutterſprache verbult nennen, das fand man damals in der groͤßten Vollkommenheit an ihr. Jhr Haus wimmelte von jungen Herren, die daſelbſt zuſammen kamen, ihre verliebte Andacht zu verrichten, welche in einer ſehr ſtrengen Abgoͤt- terey beſtund. Sie ließ ſich anbeten, und ſchien doch unempfindlich dabey zu ſeyn. Man mochte ſie einen Tieger, oder einen Engel, ihre Augen Son- nen oder donnerſchwangre Wolken heißen, ihre Bruſt mit hartem Marmor, oder mit kaltem Schnee vergleichen; bey allem that ſie gleichguͤltig. Die Seufzer ihrer Anbeter bewegten ſie nicht; ſie ſah dieſelben als einen Tribut an, welche ihr ihre Skla- ven ſchuldig waͤren, und dieſe hielten es ſchon fuͤr ein großes Gluͤck, wenn ſie nur in ihrer Gegenwart ſeufzen konnten. Viele brachte dieſe angenomme- ne Sproͤdigkeit beynahe zur Verzweiflung. Sie ſchwuren, daß ſie nicht laͤnger leben wollten, rede- ten von Gift und Dolche; ſie leben aber noch alle, dem Himmel ſey Dank, bis auf dieſe Stunde friſch und geſund. Man wird an dieſer Erzaͤhlung kei- nen Zweifel tragen, wenn ich verſichre, daß ich in meiner

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Zitationshilfe: [Rabener, Gottlieb Wilhelm]: Sammlung satyrischer Schriften. Bd. 1. Leipzig, 1751, S. 172. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/rabener_sammlung01_1751/246>, abgerufen am 24.11.2024.