Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Raabe, Wilhelm: Stopfkuchen. Eine See- und Mordgeschichte. Berlin, 1891.

Bild:
<< vorherige Seite

der Meinung der Mehrzahl von uns, todtgeschlagen
haben soll. Er steht nun vor dem Richter, der das
letzte Wort in dieser dunkeln Sache sprechen wird:
sollten wir jetzt wenigstens nicht doch ein wenig mehr,
hier am Ort, in uns gehen und uns fragen: haben
wir dem stillen Mann hier vor uns nicht doch viel-
leicht zu viele Steine des Ärgernisses in den Weg
geworfen? Christliche Gemeinde, meine lieben Brüder
und Schwestern, haben wir nicht doch vielleicht etwas
zu lauthalsig Racha über ihn geschrien? Wenn er
nun da an den schwarzen Deckel pochte, und noch
einmal wenigstens für einen Augenblick herausver-
langte, um sein Verdikt von da oben her schriftlich
uns zuzureichen, was würden wir da thun? wer
würde die Hand ohne Bangniß nach dem Blatt aus-
strecken? O, liebe Brüder und Schwestern, beim
Hochzeitsmahl der beiden verehrten Hauptleidtragenden
sind wir wohl so ziemlich alle hier im Kreise an-
wesend gewesen; aber ich wünschte auch, es wären
wenigstens Einige von euch vorgestern Abend mit
mir nach der rothen Schanze gegangen, daß sie sich das
friedliche Gesicht des eben Entschlafenen hätten an-
sehen können. Da hätten wohl Einige, die schon in
solche Gesichter haben sehen müssen, sicherlich gesagt:
Dieser muß trotz allem eines sanften Todes gestorben
sein! --

Christliche Gemeinde, wenn er Kienbaum nun
doch nicht todtgeschlagen hätte?... Hätte er da nicht
vor dem letzten Richter sein Wort sprechen dürfen?
Ich glaube, er hat die Erlaubniß erhalten; und wie

der Meinung der Mehrzahl von uns, todtgeſchlagen
haben ſoll. Er ſteht nun vor dem Richter, der das
letzte Wort in dieſer dunkeln Sache ſprechen wird:
ſollten wir jetzt wenigſtens nicht doch ein wenig mehr,
hier am Ort, in uns gehen und uns fragen: haben
wir dem ſtillen Mann hier vor uns nicht doch viel-
leicht zu viele Steine des Ärgerniſſes in den Weg
geworfen? Chriſtliche Gemeinde, meine lieben Brüder
und Schweſtern, haben wir nicht doch vielleicht etwas
zu lauthalſig Racha über ihn geſchrien? Wenn er
nun da an den ſchwarzen Deckel pochte, und noch
einmal wenigſtens für einen Augenblick herausver-
langte, um ſein Verdikt von da oben her ſchriftlich
uns zuzureichen, was würden wir da thun? wer
würde die Hand ohne Bangniß nach dem Blatt aus-
ſtrecken? O, liebe Brüder und Schweſtern, beim
Hochzeitsmahl der beiden verehrten Hauptleidtragenden
ſind wir wohl ſo ziemlich alle hier im Kreiſe an-
weſend geweſen; aber ich wünſchte auch, es wären
wenigſtens Einige von euch vorgeſtern Abend mit
mir nach der rothen Schanze gegangen, daß ſie ſich das
friedliche Geſicht des eben Entſchlafenen hätten an-
ſehen können. Da hätten wohl Einige, die ſchon in
ſolche Geſichter haben ſehen müſſen, ſicherlich geſagt:
Dieſer muß trotz allem eines ſanften Todes geſtorben
ſein! —

Chriſtliche Gemeinde, wenn er Kienbaum nun
doch nicht todtgeſchlagen hätte?... Hätte er da nicht
vor dem letzten Richter ſein Wort ſprechen dürfen?
Ich glaube, er hat die Erlaubniß erhalten; und wie

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0244" n="234"/>
der Meinung der Mehrzahl von uns, todtge&#x017F;chlagen<lb/>
haben &#x017F;oll. Er &#x017F;teht nun vor dem Richter, der das<lb/>
letzte Wort in die&#x017F;er dunkeln Sache &#x017F;prechen wird:<lb/>
&#x017F;ollten wir jetzt wenig&#x017F;tens nicht doch ein wenig mehr,<lb/>
hier am Ort, in uns gehen und uns fragen: haben<lb/>
wir dem &#x017F;tillen Mann hier vor uns nicht doch viel-<lb/>
leicht zu viele Steine des Ärgerni&#x017F;&#x017F;es in den Weg<lb/>
geworfen? Chri&#x017F;tliche Gemeinde, meine lieben Brüder<lb/>
und Schwe&#x017F;tern, haben wir nicht doch vielleicht etwas<lb/>
zu lauthal&#x017F;ig Racha über ihn ge&#x017F;chrien? Wenn er<lb/>
nun da an den &#x017F;chwarzen Deckel pochte, und noch<lb/>
einmal wenig&#x017F;tens für einen Augenblick herausver-<lb/>
langte, um &#x017F;ein Verdikt von da oben her &#x017F;chriftlich<lb/>
uns zuzureichen, was würden wir da thun? wer<lb/>
würde die Hand ohne Bangniß nach dem Blatt aus-<lb/>
&#x017F;trecken? O, liebe Brüder und Schwe&#x017F;tern, beim<lb/>
Hochzeitsmahl der beiden verehrten Hauptleidtragenden<lb/>
&#x017F;ind wir wohl &#x017F;o ziemlich alle hier im Krei&#x017F;e an-<lb/>
we&#x017F;end gewe&#x017F;en; aber ich wün&#x017F;chte auch, es wären<lb/>
wenig&#x017F;tens Einige von euch vorge&#x017F;tern Abend mit<lb/>
mir nach der rothen Schanze gegangen, daß &#x017F;ie &#x017F;ich das<lb/>
friedliche Ge&#x017F;icht des eben Ent&#x017F;chlafenen hätten an-<lb/>
&#x017F;ehen können. Da hätten wohl Einige, die &#x017F;chon in<lb/>
&#x017F;olche Ge&#x017F;ichter haben &#x017F;ehen mü&#x017F;&#x017F;en, &#x017F;icherlich ge&#x017F;agt:<lb/>
Die&#x017F;er muß trotz allem eines &#x017F;anften Todes ge&#x017F;torben<lb/>
&#x017F;ein! &#x2014;</p><lb/>
        <p>Chri&#x017F;tliche Gemeinde, wenn er Kienbaum nun<lb/>
doch nicht todtge&#x017F;chlagen hätte?... Hätte er da nicht<lb/>
vor dem letzten Richter &#x017F;ein Wort &#x017F;prechen dürfen?<lb/>
Ich glaube, er hat die Erlaubniß erhalten; und wie<lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[234/0244] der Meinung der Mehrzahl von uns, todtgeſchlagen haben ſoll. Er ſteht nun vor dem Richter, der das letzte Wort in dieſer dunkeln Sache ſprechen wird: ſollten wir jetzt wenigſtens nicht doch ein wenig mehr, hier am Ort, in uns gehen und uns fragen: haben wir dem ſtillen Mann hier vor uns nicht doch viel- leicht zu viele Steine des Ärgerniſſes in den Weg geworfen? Chriſtliche Gemeinde, meine lieben Brüder und Schweſtern, haben wir nicht doch vielleicht etwas zu lauthalſig Racha über ihn geſchrien? Wenn er nun da an den ſchwarzen Deckel pochte, und noch einmal wenigſtens für einen Augenblick herausver- langte, um ſein Verdikt von da oben her ſchriftlich uns zuzureichen, was würden wir da thun? wer würde die Hand ohne Bangniß nach dem Blatt aus- ſtrecken? O, liebe Brüder und Schweſtern, beim Hochzeitsmahl der beiden verehrten Hauptleidtragenden ſind wir wohl ſo ziemlich alle hier im Kreiſe an- weſend geweſen; aber ich wünſchte auch, es wären wenigſtens Einige von euch vorgeſtern Abend mit mir nach der rothen Schanze gegangen, daß ſie ſich das friedliche Geſicht des eben Entſchlafenen hätten an- ſehen können. Da hätten wohl Einige, die ſchon in ſolche Geſichter haben ſehen müſſen, ſicherlich geſagt: Dieſer muß trotz allem eines ſanften Todes geſtorben ſein! — Chriſtliche Gemeinde, wenn er Kienbaum nun doch nicht todtgeſchlagen hätte?... Hätte er da nicht vor dem letzten Richter ſein Wort ſprechen dürfen? Ich glaube, er hat die Erlaubniß erhalten; und wie

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Wilhelm Raabes "Stopfkuchen. Eine See- und Mordge… [mehr]

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/raabe_stopfkuchen_1891
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/raabe_stopfkuchen_1891/244
Zitationshilfe: Raabe, Wilhelm: Stopfkuchen. Eine See- und Mordgeschichte. Berlin, 1891, S. 234. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/raabe_stopfkuchen_1891/244>, abgerufen am 25.11.2024.