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Raabe, Wilhelm: Die Chronik der Sperlingsgasse. Berlin, 1857.

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ren es nur sein kann, ehe ich mich in das ungewohnte
Leben hinein fand. --

Wie deutlich steht mir der erste Abend in unserer
Kindheitsstadt noch vor dem Gedächtniß! Der Oheim
war zurückgekehrt in sein einsames Waldhaus, die Frau
Rectorin wirthschaftete in der Küche, der alte Rector
saß oben in seinem kleinen Studirstübchen über dem
Tacitus, seinem Lieblingsschriftsteller, wie ich später er-
fuhr und -- ich kauerte einsam mit verquollenen, thrä-
nenden Augen auf der grünen Bank vor dem Hause
und schaute in dumpfem Hinbrüten den vorbeischießen-
den Schwalben nach: als auf einmal ein kleines, etwas
schmutziges Händchen mir einen angebissenen rothbackigen
Apfel hinhielt, ein Lockenköpfchen sich unter meine Nase
drängte und ein feines Stimmchen sagte:

"Nicht weinen ... Junge ... Mama auch Eierku-
chen backen."

Ich hatte damals große Lust, die kleine Trösterin
zurückzustoßen, sie ließ sich aber nicht abweisen, und als
ich über ihr Mitgefühl stärker zu schluchzen anfing, fing
auch sie an zu weinen. Unter diesem Thränenstrom
wurden wir von dem alten Rector überrascht, welcher
plötzlich in seinem rothgeblümten Schlafrock -- ein Por-
trait von ihm giebt es dort unter meinen Skizzen --
und mit der langen Pfeife im Munde hinter uns stand.

ren es nur ſein kann, ehe ich mich in das ungewohnte
Leben hinein fand. —

Wie deutlich ſteht mir der erſte Abend in unſerer
Kindheitsſtadt noch vor dem Gedächtniß! Der Oheim
war zurückgekehrt in ſein einſames Waldhaus, die Frau
Rectorin wirthſchaftete in der Küche, der alte Rector
ſaß oben in ſeinem kleinen Studirſtübchen über dem
Tacitus, ſeinem Lieblingsſchriftſteller, wie ich ſpäter er-
fuhr und — ich kauerte einſam mit verquollenen, thrä-
nenden Augen auf der grünen Bank vor dem Hauſe
und ſchaute in dumpfem Hinbrüten den vorbeiſchießen-
den Schwalben nach: als auf einmal ein kleines, etwas
ſchmutziges Händchen mir einen angebiſſenen rothbackigen
Apfel hinhielt, ein Lockenköpfchen ſich unter meine Naſe
drängte und ein feines Stimmchen ſagte:

„Nicht weinen … Junge … Mama auch Eierku-
chen backen.“

Ich hatte damals große Luſt, die kleine Tröſterin
zurückzuſtoßen, ſie ließ ſich aber nicht abweiſen, und als
ich über ihr Mitgefühl ſtärker zu ſchluchzen anfing, fing
auch ſie an zu weinen. Unter dieſem Thränenſtrom
wurden wir von dem alten Rector überraſcht, welcher
plötzlich in ſeinem rothgeblümten Schlafrock — ein Por-
trait von ihm giebt es dort unter meinen Skizzen —
und mit der langen Pfeife im Munde hinter uns ſtand.

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[48/0058] ren es nur ſein kann, ehe ich mich in das ungewohnte Leben hinein fand. — Wie deutlich ſteht mir der erſte Abend in unſerer Kindheitsſtadt noch vor dem Gedächtniß! Der Oheim war zurückgekehrt in ſein einſames Waldhaus, die Frau Rectorin wirthſchaftete in der Küche, der alte Rector ſaß oben in ſeinem kleinen Studirſtübchen über dem Tacitus, ſeinem Lieblingsſchriftſteller, wie ich ſpäter er- fuhr und — ich kauerte einſam mit verquollenen, thrä- nenden Augen auf der grünen Bank vor dem Hauſe und ſchaute in dumpfem Hinbrüten den vorbeiſchießen- den Schwalben nach: als auf einmal ein kleines, etwas ſchmutziges Händchen mir einen angebiſſenen rothbackigen Apfel hinhielt, ein Lockenköpfchen ſich unter meine Naſe drängte und ein feines Stimmchen ſagte: „Nicht weinen … Junge … Mama auch Eierku- chen backen.“ Ich hatte damals große Luſt, die kleine Tröſterin zurückzuſtoßen, ſie ließ ſich aber nicht abweiſen, und als ich über ihr Mitgefühl ſtärker zu ſchluchzen anfing, fing auch ſie an zu weinen. Unter dieſem Thränenſtrom wurden wir von dem alten Rector überraſcht, welcher plötzlich in ſeinem rothgeblümten Schlafrock — ein Por- trait von ihm giebt es dort unter meinen Skizzen — und mit der langen Pfeife im Munde hinter uns ſtand.

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Zitationshilfe: Raabe, Wilhelm: Die Chronik der Sperlingsgasse. Berlin, 1857, S. 48. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/raabe_sperlingsgasse_1857/58>, abgerufen am 22.11.2024.