Raabe, Wilhelm: Die Chronik der Sperlingsgasse. Berlin, 1857.Greis, welcher kaum noch das Gefühl für Wärme und Sieh um dich, Johannes: Verkehrt auf dem grauen Auf einem Berliner Friedhofe liegt über der Asche "Sein Lied war deutsch und deutsch sein Leid, "Sein Leben Kampf mit Noth und Neid, "Das Leid flieht diesen Friedensort, "Der Kampf ist aus -- das Lied tönt fort! --" Greis, welcher kaum noch das Gefühl für Wärme und Sieh um dich, Johannes: Verkehrt auf dem grauen Auf einem Berliner Friedhofe liegt über der Aſche „Sein Lied war deutſch und deutſch ſein Leid, „Sein Leben Kampf mit Noth und Neid, „Das Leid flieht dieſen Friedensort, „Der Kampf iſt aus — das Lied tönt fort! —“ <TEI> <text> <body> <div n="1"> <p><pb facs="#f0044" n="34"/> Greis, welcher kaum noch das Gefühl für Wärme und<lb/> Kälte behalten hat.</p><lb/> <p>Sieh um dich, Johannes: Verkehrt auf dem grauen<lb/> Eſel „Zeit“ ſitzend, reitet die Menſchheit ihrem Ziele<lb/> zu. Horch, wie luſtig die Schellen und Glöckchen am<lb/> Sattelſchmuck klingen, den Kronen, Tiaren, phrygiſche<lb/> Mützen — Männer- und Weiberkappen bilden. Welchem<lb/> Ziel ſchleicht <hi rendition="#g">das</hi> graue Thier entgegen? Iſt’s das wie-<lb/> dergewonnene Paradies; iſt’s das Schaffot? Die Rei-<lb/> terin kennt es nicht; ſie — will es nicht kennen! Den<lb/> Kopf dem zurückgelegten Wege, der dunkeln Vergangen-<lb/> heit zugewandt, lauſcht ſie den Glöckchen, mag das Thier<lb/> über blumige Friedensauen wandern oder durch das Blut<lb/> der Schlachtfelder waten, — ſie lauſcht und träumt!<lb/> Ja, ſie träumt. Ein Traum iſt das Leben der Menſch-<lb/> heit, ein Traum iſt das Leben des Individuums. Wie<lb/> und wo wird das Erwachen ſein?</p><lb/> <p>Auf einem Berliner Friedhofe liegt über der Aſche<lb/> eines großen volksthümlichen Tonkünſtlers ein Stein,<lb/> auf welchen eine Freundeshand geſchrieben hat:</p><lb/> <lg type="poem"> <l>„Sein Lied war deutſch und deutſch ſein Leid,</l><lb/> <l>„Sein Leben Kampf mit Noth und Neid,</l><lb/> <l>„Das Leid flieht dieſen Friedensort,</l><lb/> <l>„Der Kampf iſt aus — das Lied tönt fort! —“</l> </lg><lb/> </div> </body> </text> </TEI> [34/0044]
Greis, welcher kaum noch das Gefühl für Wärme und
Kälte behalten hat.
Sieh um dich, Johannes: Verkehrt auf dem grauen
Eſel „Zeit“ ſitzend, reitet die Menſchheit ihrem Ziele
zu. Horch, wie luſtig die Schellen und Glöckchen am
Sattelſchmuck klingen, den Kronen, Tiaren, phrygiſche
Mützen — Männer- und Weiberkappen bilden. Welchem
Ziel ſchleicht das graue Thier entgegen? Iſt’s das wie-
dergewonnene Paradies; iſt’s das Schaffot? Die Rei-
terin kennt es nicht; ſie — will es nicht kennen! Den
Kopf dem zurückgelegten Wege, der dunkeln Vergangen-
heit zugewandt, lauſcht ſie den Glöckchen, mag das Thier
über blumige Friedensauen wandern oder durch das Blut
der Schlachtfelder waten, — ſie lauſcht und träumt!
Ja, ſie träumt. Ein Traum iſt das Leben der Menſch-
heit, ein Traum iſt das Leben des Individuums. Wie
und wo wird das Erwachen ſein?
Auf einem Berliner Friedhofe liegt über der Aſche
eines großen volksthümlichen Tonkünſtlers ein Stein,
auf welchen eine Freundeshand geſchrieben hat:
„Sein Lied war deutſch und deutſch ſein Leid,
„Sein Leben Kampf mit Noth und Neid,
„Das Leid flieht dieſen Friedensort,
„Der Kampf iſt aus — das Lied tönt fort! —“
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