Eine andere Gestalt kommt um die Ecke; -- ein leiser Pfiff, --
"Du hast mich lange warten lassen, Riekchen!"
"Ich konnte nicht eher, die Mutter ist erst eben ein- geschlafen," ....
Ein in der Ferne rollender Wagen macht das Uebrige unhörbar. Die Figuren treten aus dem Schatten; ich sehe Ballputz unter den dunkelen Mänteln. --
Sie verschwinden um die Ecke und ich schließe das Fenster.
So endet das erste Blatt der Chronik, die wie die Geschichte der Menschheit, wie die Geschichte des Einzel- nen beginnt mit -- einem Traume. --
Am 2. December. --
Es ist heute für mich der Jahrestag eines großen Schmerzes und doch trat heute Morgen der Humor auf meine Schwelle, schüttelte seine Schellen, schwang seine Pritsche und sagte:
"Lache, lache, Johannes, Du bist alt und hast keine Zeit mehr zu verlieren." --
Jener sonderbare lange Mensch von drüben, im ab-
Eine andere Geſtalt kommt um die Ecke; — ein leiſer Pfiff, —
„Du haſt mich lange warten laſſen, Riekchen!“
„Ich konnte nicht eher, die Mutter iſt erſt eben ein- geſchlafen,“ ....
Ein in der Ferne rollender Wagen macht das Uebrige unhörbar. Die Figuren treten aus dem Schatten; ich ſehe Ballputz unter den dunkelen Mänteln. —
Sie verſchwinden um die Ecke und ich ſchließe das Fenſter.
So endet das erſte Blatt der Chronik, die wie die Geſchichte der Menſchheit, wie die Geſchichte des Einzel- nen beginnt mit — einem Traume. —
Am 2. December. —
Es iſt heute für mich der Jahrestag eines großen Schmerzes und doch trat heute Morgen der Humor auf meine Schwelle, ſchüttelte ſeine Schellen, ſchwang ſeine Pritſche und ſagte:
„Lache, lache, Johannes, Du biſt alt und haſt keine Zeit mehr zu verlieren.“ —
Jener ſonderbare lange Menſch von drüben, im ab-
<TEI><text><body><divn="1"><p><pbfacs="#f0031"n="21"/>
Eine andere Geſtalt kommt um die Ecke; — ein leiſer<lb/>
Pfiff, —</p><lb/><p>„Du haſt mich lange warten laſſen, Riekchen!“</p><lb/><p>„Ich konnte nicht eher, die Mutter iſt erſt eben ein-<lb/>
geſchlafen,“ ....</p><lb/><p>Ein in der Ferne rollender Wagen macht das Uebrige<lb/>
unhörbar. Die Figuren treten aus dem Schatten; ich<lb/>ſehe Ballputz unter den dunkelen Mänteln. —</p><lb/><p>Sie verſchwinden um die Ecke und ich ſchließe das<lb/>
Fenſter.</p><lb/><p>So endet das erſte Blatt der Chronik, die wie die<lb/>
Geſchichte der Menſchheit, wie die Geſchichte des Einzel-<lb/>
nen beginnt mit — einem <hirendition="#g">Traume</hi>. —</p><lb/><milestonerendition="#hr"unit="section"/></div><divn="1"><dateline><hirendition="#right">Am 2. December. —</hi></dateline><lb/><p>Es iſt heute für mich der Jahrestag eines großen<lb/>
Schmerzes und doch trat heute Morgen der Humor auf<lb/>
meine Schwelle, ſchüttelte ſeine Schellen, ſchwang ſeine<lb/>
Pritſche und ſagte:</p><lb/><p>„Lache, lache, Johannes, Du biſt alt und haſt keine<lb/>
Zeit mehr zu verlieren.“—</p><lb/><p>Jener ſonderbare lange Menſch von drüben, im ab-<lb/></p></div></body></text></TEI>
[21/0031]
Eine andere Geſtalt kommt um die Ecke; — ein leiſer
Pfiff, —
„Du haſt mich lange warten laſſen, Riekchen!“
„Ich konnte nicht eher, die Mutter iſt erſt eben ein-
geſchlafen,“ ....
Ein in der Ferne rollender Wagen macht das Uebrige
unhörbar. Die Figuren treten aus dem Schatten; ich
ſehe Ballputz unter den dunkelen Mänteln. —
Sie verſchwinden um die Ecke und ich ſchließe das
Fenſter.
So endet das erſte Blatt der Chronik, die wie die
Geſchichte der Menſchheit, wie die Geſchichte des Einzel-
nen beginnt mit — einem Traume. —
Am 2. December. —
Es iſt heute für mich der Jahrestag eines großen
Schmerzes und doch trat heute Morgen der Humor auf
meine Schwelle, ſchüttelte ſeine Schellen, ſchwang ſeine
Pritſche und ſagte:
„Lache, lache, Johannes, Du biſt alt und haſt keine
Zeit mehr zu verlieren.“ —
Jener ſonderbare lange Menſch von drüben, im ab-
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Raabe, Wilhelm: Die Chronik der Sperlingsgasse. Berlin, 1857, S. 21. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/raabe_sperlingsgasse_1857/31>, abgerufen am 23.02.2025.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
2007–2025 Deutsches Textarchiv, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften
(Kontakt).
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2025. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.