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Raabe, Wilhelm: Die Chronik der Sperlingsgasse. Berlin, 1857.

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Eine andere Gestalt kommt um die Ecke; -- ein leiser
Pfiff, --

"Du hast mich lange warten lassen, Riekchen!"

"Ich konnte nicht eher, die Mutter ist erst eben ein-
geschlafen," ....

Ein in der Ferne rollender Wagen macht das Uebrige
unhörbar. Die Figuren treten aus dem Schatten; ich
sehe Ballputz unter den dunkelen Mänteln. --

Sie verschwinden um die Ecke und ich schließe das
Fenster.

So endet das erste Blatt der Chronik, die wie die
Geschichte der Menschheit, wie die Geschichte des Einzel-
nen beginnt mit -- einem Traume. --



Es ist heute für mich der Jahrestag eines großen
Schmerzes und doch trat heute Morgen der Humor auf
meine Schwelle, schüttelte seine Schellen, schwang seine
Pritsche und sagte:

"Lache, lache, Johannes, Du bist alt und hast keine
Zeit mehr zu verlieren." --

Jener sonderbare lange Mensch von drüben, im ab-

Eine andere Geſtalt kommt um die Ecke; — ein leiſer
Pfiff, —

„Du haſt mich lange warten laſſen, Riekchen!“

„Ich konnte nicht eher, die Mutter iſt erſt eben ein-
geſchlafen,“ ....

Ein in der Ferne rollender Wagen macht das Uebrige
unhörbar. Die Figuren treten aus dem Schatten; ich
ſehe Ballputz unter den dunkelen Mänteln. —

Sie verſchwinden um die Ecke und ich ſchließe das
Fenſter.

So endet das erſte Blatt der Chronik, die wie die
Geſchichte der Menſchheit, wie die Geſchichte des Einzel-
nen beginnt mit — einem Traume. —



Es iſt heute für mich der Jahrestag eines großen
Schmerzes und doch trat heute Morgen der Humor auf
meine Schwelle, ſchüttelte ſeine Schellen, ſchwang ſeine
Pritſche und ſagte:

„Lache, lache, Johannes, Du biſt alt und haſt keine
Zeit mehr zu verlieren.“ —

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[21/0031] Eine andere Geſtalt kommt um die Ecke; — ein leiſer Pfiff, — „Du haſt mich lange warten laſſen, Riekchen!“ „Ich konnte nicht eher, die Mutter iſt erſt eben ein- geſchlafen,“ .... Ein in der Ferne rollender Wagen macht das Uebrige unhörbar. Die Figuren treten aus dem Schatten; ich ſehe Ballputz unter den dunkelen Mänteln. — Sie verſchwinden um die Ecke und ich ſchließe das Fenſter. So endet das erſte Blatt der Chronik, die wie die Geſchichte der Menſchheit, wie die Geſchichte des Einzel- nen beginnt mit — einem Traume. — Am 2. December. — Es iſt heute für mich der Jahrestag eines großen Schmerzes und doch trat heute Morgen der Humor auf meine Schwelle, ſchüttelte ſeine Schellen, ſchwang ſeine Pritſche und ſagte: „Lache, lache, Johannes, Du biſt alt und haſt keine Zeit mehr zu verlieren.“ — Jener ſonderbare lange Menſch von drüben, im ab-

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Zitationshilfe: Raabe, Wilhelm: Die Chronik der Sperlingsgasse. Berlin, 1857, S. 21. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/raabe_sperlingsgasse_1857/31>, abgerufen am 29.11.2024.