Es ist spät in der Nacht, als ich dieses schreibe; tiefe Dunkelheit herrscht in der Gasse; kein einziges er- helltes Fenster ist zu erblicken. Der einzige Laut, den ich vernehme, ist das Schlagen der Thurmuhren oder der Pfiff des Nachtwächters. -- Da liegen alle die be- kritzelten Bogen vor mir! bunt genug sehen sie aus! --
Was sollte ich noch viel hinzufügen? Wenn die alten Chronikenschreiber ihre Aufzeichnungen bis zu ihren Ta- gen fortgeführt und ihr Werk beendet hatten, hefteten sie noch einige weiße Bogen hinten an, damit der Be- sitzer die "wenigen" Ereignisse, welche vor dem Unter- gang der Welt noch geschehen würden, darauf nachtragen könne. Das nachzuahmen habe ich nicht im Sinn. Diese Erde wird sich noch lange drehen, in dieser engen Gasse wird noch manches Kind geboren werden, manche Leiche wird man hinaustragen und unter den letzteren viel- leicht in nicht langer Zeit auch den, welchen sie Johannes Wachholder nannten. -- Was die paar Tage, die mir noch übrig sind, bringen werden, will ich in Ruhe erwarten; viel Neues können sie mir nicht zeigen! --
Ich öffne das Fenster und schaue in die dunkle, stille, warme Nacht hinaus. Hier und da flimmert ein ein- samer Stern an der schwarzen Himmelsdecke. Wie feierlich der Glockenton in der Nacht klingt! Zwölf! ... In wie viel Träume mag sich dieser Schall verschlingen.
Es iſt ſpät in der Nacht, als ich dieſes ſchreibe; tiefe Dunkelheit herrſcht in der Gaſſe; kein einziges er- helltes Fenſter iſt zu erblicken. Der einzige Laut, den ich vernehme, iſt das Schlagen der Thurmuhren oder der Pfiff des Nachtwächters. — Da liegen alle die be- kritzelten Bogen vor mir! bunt genug ſehen ſie aus! —
Was ſollte ich noch viel hinzufügen? Wenn die alten Chronikenſchreiber ihre Aufzeichnungen bis zu ihren Ta- gen fortgeführt und ihr Werk beendet hatten, hefteten ſie noch einige weiße Bogen hinten an, damit der Be- ſitzer die „wenigen“ Ereigniſſe, welche vor dem Unter- gang der Welt noch geſchehen würden, darauf nachtragen könne. Das nachzuahmen habe ich nicht im Sinn. Dieſe Erde wird ſich noch lange drehen, in dieſer engen Gaſſe wird noch manches Kind geboren werden, manche Leiche wird man hinaustragen und unter den letzteren viel- leicht in nicht langer Zeit auch den, welchen ſie Johannes Wachholder nannten. — Was die paar Tage, die mir noch übrig ſind, bringen werden, will ich in Ruhe erwarten; viel Neues können ſie mir nicht zeigen! —
Ich öffne das Fenſter und ſchaue in die dunkle, ſtille, warme Nacht hinaus. Hier und da flimmert ein ein- ſamer Stern an der ſchwarzen Himmelsdecke. Wie feierlich der Glockenton in der Nacht klingt! Zwölf! … In wie viel Träume mag ſich dieſer Schall verſchlingen.
<TEI><text><body><divn="1"><pbfacs="#f0270"n="260"/><p>Es iſt ſpät in der Nacht, als ich dieſes ſchreibe;<lb/>
tiefe Dunkelheit herrſcht in der Gaſſe; kein einziges er-<lb/>
helltes Fenſter iſt zu erblicken. Der einzige Laut, den<lb/>
ich vernehme, iſt das Schlagen der Thurmuhren oder<lb/>
der Pfiff des Nachtwächters. — Da liegen alle die be-<lb/>
kritzelten Bogen vor mir! bunt genug ſehen ſie aus! —</p><lb/><p>Was ſollte ich noch viel hinzufügen? Wenn die alten<lb/>
Chronikenſchreiber ihre Aufzeichnungen bis zu ihren Ta-<lb/>
gen fortgeführt und ihr Werk beendet hatten, hefteten<lb/>ſie noch einige weiße Bogen hinten an, damit der Be-<lb/>ſitzer die „wenigen“ Ereigniſſe, welche vor dem Unter-<lb/>
gang der Welt noch geſchehen würden, darauf nachtragen<lb/>
könne. Das nachzuahmen habe ich nicht im Sinn.<lb/>
Dieſe Erde wird ſich noch lange drehen, in dieſer engen<lb/>
Gaſſe wird noch manches Kind geboren werden, manche<lb/>
Leiche wird man hinaustragen und unter den letzteren viel-<lb/>
leicht in nicht langer Zeit auch den, welchen ſie Johannes<lb/>
Wachholder nannten. — Was die paar Tage, die mir<lb/>
noch übrig ſind, bringen werden, will ich in Ruhe<lb/>
erwarten; viel Neues können ſie mir nicht zeigen! —</p><lb/><p>Ich öffne das Fenſter und ſchaue in die dunkle, ſtille,<lb/>
warme Nacht hinaus. Hier und da flimmert ein ein-<lb/>ſamer Stern an der ſchwarzen Himmelsdecke. Wie<lb/>
feierlich der Glockenton in der Nacht klingt! Zwölf! …<lb/>
In wie viel Träume mag ſich dieſer Schall verſchlingen.<lb/></p></div></body></text></TEI>
[260/0270]
Es iſt ſpät in der Nacht, als ich dieſes ſchreibe;
tiefe Dunkelheit herrſcht in der Gaſſe; kein einziges er-
helltes Fenſter iſt zu erblicken. Der einzige Laut, den
ich vernehme, iſt das Schlagen der Thurmuhren oder
der Pfiff des Nachtwächters. — Da liegen alle die be-
kritzelten Bogen vor mir! bunt genug ſehen ſie aus! —
Was ſollte ich noch viel hinzufügen? Wenn die alten
Chronikenſchreiber ihre Aufzeichnungen bis zu ihren Ta-
gen fortgeführt und ihr Werk beendet hatten, hefteten
ſie noch einige weiße Bogen hinten an, damit der Be-
ſitzer die „wenigen“ Ereigniſſe, welche vor dem Unter-
gang der Welt noch geſchehen würden, darauf nachtragen
könne. Das nachzuahmen habe ich nicht im Sinn.
Dieſe Erde wird ſich noch lange drehen, in dieſer engen
Gaſſe wird noch manches Kind geboren werden, manche
Leiche wird man hinaustragen und unter den letzteren viel-
leicht in nicht langer Zeit auch den, welchen ſie Johannes
Wachholder nannten. — Was die paar Tage, die mir
noch übrig ſind, bringen werden, will ich in Ruhe
erwarten; viel Neues können ſie mir nicht zeigen! —
Ich öffne das Fenſter und ſchaue in die dunkle, ſtille,
warme Nacht hinaus. Hier und da flimmert ein ein-
ſamer Stern an der ſchwarzen Himmelsdecke. Wie
feierlich der Glockenton in der Nacht klingt! Zwölf! …
In wie viel Träume mag ſich dieſer Schall verſchlingen.
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Raabe, Wilhelm: Die Chronik der Sperlingsgasse. Berlin, 1857, S. 260. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/raabe_sperlingsgasse_1857/270>, abgerufen am 16.07.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.