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Raabe, Wilhelm: Die Chronik der Sperlingsgasse. Berlin, 1857.

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ster und schaue in die Nacht hinaus. Der Regen schlägt
noch immer gegen die Scheiben; aus einem Tanzlokal
der niedrigsten Volksklasse dringen die schrillen, schnei-
denden Töne einer Geige bis hier herauf. -- Jetzt zieht
der Doctor die Uhr hervor und sagt leise und ernst:

"Sie muß sich beeilen!"

Das Kind stöhnt in seinem unruhigen Schlaf; die
Hand des Todes drückt schwer und schwerer auf das
kleine unwissende Herz, dem sich gleich ein Geheimniß
enthüllen wird, vor welchem alle Weisheit der Erde
rathlos steht. --

Auf der Sophienkirche schlägt es dumpf Zehn. Der
Wind macht sich plötzlich auf und rüttelt an den schlecht-
verwahrten Fenstern. Die Februarnacht wird immer un-
heimlicher und düsterer. -- --

Unter Blumenkränzen sich verneigend, steht jetzt im
Theater die große, berühmte Künstlerin, die Menge
jubelt und klatscht Beifall; der König, die Königin, das
Publikum hat sich erhoben; -- der schwere, goldbesternte
Vorhang rollt langsam nieder. Die bleiche Königin ist
müde in ihren Wagen gestiegen; die große Künstlerin
nimmt die Glückwünsche und Schmeicheleien der sie Um-
gebenden in Empfang; leer wird das eben noch so Men-
schengefüllte Opernhaus und -- die arme Choristin ist
halb bewußtlos an einer Coulisse zu Boden gesunken,

ſter und ſchaue in die Nacht hinaus. Der Regen ſchlägt
noch immer gegen die Scheiben; aus einem Tanzlokal
der niedrigſten Volksklaſſe dringen die ſchrillen, ſchnei-
denden Töne einer Geige bis hier herauf. — Jetzt zieht
der Doctor die Uhr hervor und ſagt leiſe und ernſt:

„Sie muß ſich beeilen!“

Das Kind ſtöhnt in ſeinem unruhigen Schlaf; die
Hand des Todes drückt ſchwer und ſchwerer auf das
kleine unwiſſende Herz, dem ſich gleich ein Geheimniß
enthüllen wird, vor welchem alle Weisheit der Erde
rathlos ſteht. —

Auf der Sophienkirche ſchlägt es dumpf Zehn. Der
Wind macht ſich plötzlich auf und rüttelt an den ſchlecht-
verwahrten Fenſtern. Die Februarnacht wird immer un-
heimlicher und düſterer. — —

Unter Blumenkränzen ſich verneigend, ſteht jetzt im
Theater die große, berühmte Künſtlerin, die Menge
jubelt und klatſcht Beifall; der König, die Königin, das
Publikum hat ſich erhoben; — der ſchwere, goldbeſternte
Vorhang rollt langſam nieder. Die bleiche Königin iſt
müde in ihren Wagen geſtiegen; die große Künſtlerin
nimmt die Glückwünſche und Schmeicheleien der ſie Um-
gebenden in Empfang; leer wird das eben noch ſo Men-
ſchengefüllte Opernhaus und — die arme Choriſtin iſt
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[187/0197] ſter und ſchaue in die Nacht hinaus. Der Regen ſchlägt noch immer gegen die Scheiben; aus einem Tanzlokal der niedrigſten Volksklaſſe dringen die ſchrillen, ſchnei- denden Töne einer Geige bis hier herauf. — Jetzt zieht der Doctor die Uhr hervor und ſagt leiſe und ernſt: „Sie muß ſich beeilen!“ Das Kind ſtöhnt in ſeinem unruhigen Schlaf; die Hand des Todes drückt ſchwer und ſchwerer auf das kleine unwiſſende Herz, dem ſich gleich ein Geheimniß enthüllen wird, vor welchem alle Weisheit der Erde rathlos ſteht. — Auf der Sophienkirche ſchlägt es dumpf Zehn. Der Wind macht ſich plötzlich auf und rüttelt an den ſchlecht- verwahrten Fenſtern. Die Februarnacht wird immer un- heimlicher und düſterer. — — Unter Blumenkränzen ſich verneigend, ſteht jetzt im Theater die große, berühmte Künſtlerin, die Menge jubelt und klatſcht Beifall; der König, die Königin, das Publikum hat ſich erhoben; — der ſchwere, goldbeſternte Vorhang rollt langſam nieder. Die bleiche Königin iſt müde in ihren Wagen geſtiegen; die große Künſtlerin nimmt die Glückwünſche und Schmeicheleien der ſie Um- gebenden in Empfang; leer wird das eben noch ſo Men- ſchengefüllte Opernhaus und — die arme Choriſtin iſt halb bewußtlos an einer Couliſſe zu Boden geſunken,

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Zitationshilfe: Raabe, Wilhelm: Die Chronik der Sperlingsgasse. Berlin, 1857, S. 187. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/raabe_sperlingsgasse_1857/197>, abgerufen am 24.11.2024.