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Raabe, Wilhelm: Die Chronik der Sperlingsgasse. Berlin, 1857.

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blumenkränze auf das Grab des todten Vaters; ein
Greis schritt gebückt an den Steinen und Kreuzen um-
her, die Aufschriften lesend.

In der Stadt verkündeten alle Glocken den morgen-
den Sonntag; voll und rein wogten die feierlichen Klänge,
die in den Straßen im Rollen und Rauschen der Ar-
beit ersticken, über diese stille Welt hinweg. Immer
goldner glänzte der Himmel im Westen, immer tiefer
sank die Sonne dem Horizont zu. Nacht wird's auf
der einen Hälfte dieses drehenden Balles, während auf
dem großen atlantischen Ocean vielleicht eben ein Schiff
dem jungen Amerika entgegensegelnd, die Sonne auf-
steigend begrüßt. Vielleicht ist es nur ein Schiff, das
jetzt im jungen Tage segelt, während hier die Nacht
sich über so viele Millionen legt. -- Dort steht der
Führer auf dem Verdeck, das Fernrohr in der Hand; --
im Mastkorb schaut ein freudiges Auge nach dem ersehn-
ten Lande aus, überall Leben und Bewegung. -- Hier
zündet der einsame Denker seine Lampe an und schlägt
die Bücher der Vergangenheit auf -- die Zukunft dar-
aus zu enträthseln und findet vielleicht, daß die Nacht,
die auf den Völkern liegt, ewig dauern wird, in dem-
selben Augenblick, wo auf jenem einsamen Schiff der Will-
kommensschuß donnert: "Amerika!" die zu den Schiffs-
rand stürzende Auswandrerschaar ruft, und eine Mutter

blumenkränze auf das Grab des todten Vaters; ein
Greis ſchritt gebückt an den Steinen und Kreuzen um-
her, die Aufſchriften leſend.

In der Stadt verkündeten alle Glocken den morgen-
den Sonntag; voll und rein wogten die feierlichen Klänge,
die in den Straßen im Rollen und Rauſchen der Ar-
beit erſticken, über dieſe ſtille Welt hinweg. Immer
goldner glänzte der Himmel im Weſten, immer tiefer
ſank die Sonne dem Horizont zu. Nacht wird’s auf
der einen Hälfte dieſes drehenden Balles, während auf
dem großen atlantiſchen Ocean vielleicht eben ein Schiff
dem jungen Amerika entgegenſegelnd, die Sonne auf-
ſteigend begrüßt. Vielleicht iſt es nur ein Schiff, das
jetzt im jungen Tage ſegelt, während hier die Nacht
ſich über ſo viele Millionen legt. — Dort ſteht der
Führer auf dem Verdeck, das Fernrohr in der Hand; —
im Maſtkorb ſchaut ein freudiges Auge nach dem erſehn-
ten Lande aus, überall Leben und Bewegung. — Hier
zündet der einſame Denker ſeine Lampe an und ſchlägt
die Bücher der Vergangenheit auf — die Zukunft dar-
aus zu enträthſeln und findet vielleicht, daß die Nacht,
die auf den Völkern liegt, ewig dauern wird, in dem-
ſelben Augenblick, wo auf jenem einſamen Schiff der Will-
kommensſchuß donnert: „Amerika!“ die zu den Schiffs-
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[100/0110] blumenkränze auf das Grab des todten Vaters; ein Greis ſchritt gebückt an den Steinen und Kreuzen um- her, die Aufſchriften leſend. In der Stadt verkündeten alle Glocken den morgen- den Sonntag; voll und rein wogten die feierlichen Klänge, die in den Straßen im Rollen und Rauſchen der Ar- beit erſticken, über dieſe ſtille Welt hinweg. Immer goldner glänzte der Himmel im Weſten, immer tiefer ſank die Sonne dem Horizont zu. Nacht wird’s auf der einen Hälfte dieſes drehenden Balles, während auf dem großen atlantiſchen Ocean vielleicht eben ein Schiff dem jungen Amerika entgegenſegelnd, die Sonne auf- ſteigend begrüßt. Vielleicht iſt es nur ein Schiff, das jetzt im jungen Tage ſegelt, während hier die Nacht ſich über ſo viele Millionen legt. — Dort ſteht der Führer auf dem Verdeck, das Fernrohr in der Hand; — im Maſtkorb ſchaut ein freudiges Auge nach dem erſehn- ten Lande aus, überall Leben und Bewegung. — Hier zündet der einſame Denker ſeine Lampe an und ſchlägt die Bücher der Vergangenheit auf — die Zukunft dar- aus zu enträthſeln und findet vielleicht, daß die Nacht, die auf den Völkern liegt, ewig dauern wird, in dem- ſelben Augenblick, wo auf jenem einſamen Schiff der Will- kommensſchuß donnert: „Amerika!“ die zu den Schiffs- rand ſtürzende Auswandrerſchaar ruft, und eine Mutter

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Zitationshilfe: Raabe, Wilhelm: Die Chronik der Sperlingsgasse. Berlin, 1857, S. 100. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/raabe_sperlingsgasse_1857/110>, abgerufen am 28.11.2024.