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Raabe, Wilhelm: Die Akten des Vogelsangs. Berlin, 1896.

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und Alles wollte über ihn hinrollen. Ja, das war
ein schwerer Kampf! Aber, wie Herr Andres ganz
richtig sagen, das sind so unsere Phantasien."

"Das Lungenödem wird wohl erst in der Nacht
eintreten," sagte Velten. "Ihr Tag ist zu Ende,
und es ist ein schöner, ruhiger und vor Allem nicht
zu heißer Tag gewesen. Alle ihre Sorgen sind von
mir gekommen: dies, daß ich auch jetzt die Zeit nicht
versäume, war nun ihre letzte. Ob das animalische
Herz nun ein wenig schneller oder langsamer erlahmt,
ist wohl von keiner Bedeutung. Mutter! meine
Mutter! Liebe, alte Mutter, Du mein einziger,
wirklicher Freund, was habe ich Dir heimgebracht
als meine Kunst, auch vor Dir Komödie spielen zu
können und Dir Deinen freundlichen Daseinstraum
nicht zu stören? Ja, ja, Freund Carlos, und auch
ich kann sagen, daß ich meine Rolle dieses letzte
Jahr durch gut durchgeführt habe: sie schläft ein in
der Gewißheit, mich mit einem Herzen so reich, so
leichtbewegt, so fest, so siegessicher, so unverwundbar
wie das ihrige zurückzulassen . . ."

"Velten!"

Er wendete sich zu der greisen, sechzigjährigen
Wärterin, dem "Riekchen Schellenbaum" all unserer
Nachbarfamilien, mit einem stummen Wink; dann
nahm er mich am Arm und führte mich aus der

und Alles wollte über ihn hinrollen. Ja, das war
ein ſchwerer Kampf! Aber, wie Herr Andres ganz
richtig ſagen, das ſind ſo unſere Phantaſien.“

„Das Lungenödem wird wohl erſt in der Nacht
eintreten,“ ſagte Velten. „Ihr Tag iſt zu Ende,
und es iſt ein ſchöner, ruhiger und vor Allem nicht
zu heißer Tag geweſen. Alle ihre Sorgen ſind von
mir gekommen: dies, daß ich auch jetzt die Zeit nicht
verſäume, war nun ihre letzte. Ob das animaliſche
Herz nun ein wenig ſchneller oder langſamer erlahmt,
iſt wohl von keiner Bedeutung. Mutter! meine
Mutter! Liebe, alte Mutter, Du mein einziger,
wirklicher Freund, was habe ich Dir heimgebracht
als meine Kunſt, auch vor Dir Komödie ſpielen zu
können und Dir Deinen freundlichen Daſeinstraum
nicht zu ſtören? Ja, ja, Freund Carlos, und auch
ich kann ſagen, daß ich meine Rolle dieſes letzte
Jahr durch gut durchgeführt habe: ſie ſchläft ein in
der Gewißheit, mich mit einem Herzen ſo reich, ſo
leichtbewegt, ſo feſt, ſo ſiegesſicher, ſo unverwundbar
wie das ihrige zurückzulaſſen . . .“

„Velten!“

Er wendete ſich zu der greiſen, ſechzigjährigen
Wärterin, dem „Riekchen Schellenbaum“ all unſerer
Nachbarfamilien, mit einem ſtummen Wink; dann
nahm er mich am Arm und führte mich aus der

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[249/0259] und Alles wollte über ihn hinrollen. Ja, das war ein ſchwerer Kampf! Aber, wie Herr Andres ganz richtig ſagen, das ſind ſo unſere Phantaſien.“ „Das Lungenödem wird wohl erſt in der Nacht eintreten,“ ſagte Velten. „Ihr Tag iſt zu Ende, und es iſt ein ſchöner, ruhiger und vor Allem nicht zu heißer Tag geweſen. Alle ihre Sorgen ſind von mir gekommen: dies, daß ich auch jetzt die Zeit nicht verſäume, war nun ihre letzte. Ob das animaliſche Herz nun ein wenig ſchneller oder langſamer erlahmt, iſt wohl von keiner Bedeutung. Mutter! meine Mutter! Liebe, alte Mutter, Du mein einziger, wirklicher Freund, was habe ich Dir heimgebracht als meine Kunſt, auch vor Dir Komödie ſpielen zu können und Dir Deinen freundlichen Daſeinstraum nicht zu ſtören? Ja, ja, Freund Carlos, und auch ich kann ſagen, daß ich meine Rolle dieſes letzte Jahr durch gut durchgeführt habe: ſie ſchläft ein in der Gewißheit, mich mit einem Herzen ſo reich, ſo leichtbewegt, ſo feſt, ſo ſiegesſicher, ſo unverwundbar wie das ihrige zurückzulaſſen . . .“ „Velten!“ Er wendete ſich zu der greiſen, ſechzigjährigen Wärterin, dem „Riekchen Schellenbaum“ all unſerer Nachbarfamilien, mit einem ſtummen Wink; dann nahm er mich am Arm und führte mich aus der

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Zitationshilfe: Raabe, Wilhelm: Die Akten des Vogelsangs. Berlin, 1896, S. 249. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/raabe_akten_1896/259>, abgerufen am 22.11.2024.