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Raabe, Wilhelm: Die Akten des Vogelsangs. Berlin, 1896.

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von Haus zu Haus: ich erinnere mich nur eines
einzigen freundlichen Sonnabendnachmittags, an
welchem unser Kinderwagen auch in die letzte Garten¬
laube der Nachbarschaft des Vogelsangs hineinge¬
schoben wurde, um meiner Frau zu dem Ausrufe zu
verhelfen:

"O Gott, diese liebe alte Dame! Ist es denn
eine Möglichkeit, daß die Deinen Freund Velten so
in den Armen gehalten und so abgeküßt hat, wie
ich unsern Ferdinand, sowie wir wieder zu Hause
sind?" --

Es war so um die Mitte des Septembers ge¬
worden. Seit vierzehn Tagen oder drei Wochen
hatten wir uns wieder einmal nicht in unseren
Wohnungen aufgesucht, waren uns auch auf Spazier¬
wegen nicht begegnet, als mich an einem warmen,
stillen Spätnachmittage plötzlich so ein Gefühl über¬
kam, als sei ich schuld hier an einem Versäumniß
und als brauche man im Vogelsang keine der mir
möglichen Entschuldigungen gelten lassen. Dieses
Gefühl wurde so peinlich, daß ich ganz ärgerlich nach
dem Hut griff mit einem: "Dieser Mensch hat doch
wahrhaftig mehr Zeit als Unsereiner!"

Ich ging zu ihm und -- schickte nach einer halben
Stunde einen Boten zu meiner Frau mit der Benach¬

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von Haus zu Haus: ich erinnere mich nur eines
einzigen freundlichen Sonnabendnachmittags, an
welchem unſer Kinderwagen auch in die letzte Garten¬
laube der Nachbarſchaft des Vogelſangs hineinge¬
ſchoben wurde, um meiner Frau zu dem Ausrufe zu
verhelfen:

„O Gott, dieſe liebe alte Dame! Iſt es denn
eine Möglichkeit, daß die Deinen Freund Velten ſo
in den Armen gehalten und ſo abgeküßt hat, wie
ich unſern Ferdinand, ſowie wir wieder zu Hauſe
ſind?“ —

Es war ſo um die Mitte des Septembers ge¬
worden. Seit vierzehn Tagen oder drei Wochen
hatten wir uns wieder einmal nicht in unſeren
Wohnungen aufgeſucht, waren uns auch auf Spazier¬
wegen nicht begegnet, als mich an einem warmen,
ſtillen Spätnachmittage plötzlich ſo ein Gefühl über¬
kam, als ſei ich ſchuld hier an einem Verſäumniß
und als brauche man im Vogelſang keine der mir
möglichen Entſchuldigungen gelten laſſen. Dieſes
Gefühl wurde ſo peinlich, daß ich ganz ärgerlich nach
dem Hut griff mit einem: „Dieſer Menſch hat doch
wahrhaftig mehr Zeit als Unſereiner!“

Ich ging zu ihm und — ſchickte nach einer halben
Stunde einen Boten zu meiner Frau mit der Benach¬

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[243/0253] von Haus zu Haus: ich erinnere mich nur eines einzigen freundlichen Sonnabendnachmittags, an welchem unſer Kinderwagen auch in die letzte Garten¬ laube der Nachbarſchaft des Vogelſangs hineinge¬ ſchoben wurde, um meiner Frau zu dem Ausrufe zu verhelfen: „O Gott, dieſe liebe alte Dame! Iſt es denn eine Möglichkeit, daß die Deinen Freund Velten ſo in den Armen gehalten und ſo abgeküßt hat, wie ich unſern Ferdinand, ſowie wir wieder zu Hauſe ſind?“ — Es war ſo um die Mitte des Septembers ge¬ worden. Seit vierzehn Tagen oder drei Wochen hatten wir uns wieder einmal nicht in unſeren Wohnungen aufgeſucht, waren uns auch auf Spazier¬ wegen nicht begegnet, als mich an einem warmen, ſtillen Spätnachmittage plötzlich ſo ein Gefühl über¬ kam, als ſei ich ſchuld hier an einem Verſäumniß und als brauche man im Vogelſang keine der mir möglichen Entſchuldigungen gelten laſſen. Dieſes Gefühl wurde ſo peinlich, daß ich ganz ärgerlich nach dem Hut griff mit einem: „Dieſer Menſch hat doch wahrhaftig mehr Zeit als Unſereiner!“ Ich ging zu ihm und — ſchickte nach einer halben Stunde einen Boten zu meiner Frau mit der Benach¬ 16 *

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Zitationshilfe: Raabe, Wilhelm: Die Akten des Vogelsangs. Berlin, 1896, S. 243. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/raabe_akten_1896/253>, abgerufen am 25.11.2024.