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Raabe, Wilhelm: Die Akten des Vogelsangs. Berlin, 1896.

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Veltens Mutter hatte ihn selbst gebracht und mit
mir und meiner jungen Frau, die nichts mehr von
dem Vogelsang wußte, neben dem schwarzen Schrein
gesessen und mir mehrfach die Hand aufs Knie ge¬
legt und geseufzt:

"Ich werde ihn sehr, sehr vermissen, Deinen
guten Vater, bester Karl! Nun bin ich die Letzte
von den Alten unterm Osterberge. Manchmal in
dem jetzigen Lärm dort um mich her, wenn ich so
von meinem Strickzeug am Fenster aufsehe, kommt
es mir doch wirklich vor, als gehöre auch ich nicht mehr
dahin; aber ich habe es ihm ja versprochen, daß er
mich jederzeit dort in seines Vaters und seinem eigenen
alten Wesen noch vorfinden soll, und so muß ich
noch etwas bleiben. Wer verdunkelt Einem nun noch
mit einem: ,Auf ein Wort, Frau Nachbarin!' das
Fenster, um Einen fester in der Gewißheit, zur Seite
und gegenüber die beste liebste Nachbarschaft zu haben,
nach dem Vorgucken und Besuch wieder sich selbst zu
lassen? Kommt ihr jungen Leute, so könnte man
sich so vorkommen wie ein ein halb Jahrhundert vor
der Erlösung für einen Augenblick aufgewachtes Dorn¬
röschen, das sich nicht seinem Prinzen in Mantel,
Federbarett und Tricot, sondern einem durch die Hecke
gedrungenen Liebhaberphotographen gegenüber findet.
Ja sieh, lieber armer Junge, so schwatzt die alte

Veltens Mutter hatte ihn ſelbſt gebracht und mit
mir und meiner jungen Frau, die nichts mehr von
dem Vogelſang wußte, neben dem ſchwarzen Schrein
geſeſſen und mir mehrfach die Hand aufs Knie ge¬
legt und geſeufzt:

„Ich werde ihn ſehr, ſehr vermiſſen, Deinen
guten Vater, beſter Karl! Nun bin ich die Letzte
von den Alten unterm Oſterberge. Manchmal in
dem jetzigen Lärm dort um mich her, wenn ich ſo
von meinem Strickzeug am Fenſter aufſehe, kommt
es mir doch wirklich vor, als gehöre auch ich nicht mehr
dahin; aber ich habe es ihm ja verſprochen, daß er
mich jederzeit dort in ſeines Vaters und ſeinem eigenen
alten Weſen noch vorfinden ſoll, und ſo muß ich
noch etwas bleiben. Wer verdunkelt Einem nun noch
mit einem: ‚Auf ein Wort, Frau Nachbarin!‘ das
Fenſter, um Einen feſter in der Gewißheit, zur Seite
und gegenüber die beſte liebſte Nachbarſchaft zu haben,
nach dem Vorgucken und Beſuch wieder ſich ſelbſt zu
laſſen? Kommt ihr jungen Leute, ſo könnte man
ſich ſo vorkommen wie ein ein halb Jahrhundert vor
der Erlöſung für einen Augenblick aufgewachtes Dorn¬
röſchen, das ſich nicht ſeinem Prinzen in Mantel,
Federbarett und Tricot, ſondern einem durch die Hecke
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[205/0215] Veltens Mutter hatte ihn ſelbſt gebracht und mit mir und meiner jungen Frau, die nichts mehr von dem Vogelſang wußte, neben dem ſchwarzen Schrein geſeſſen und mir mehrfach die Hand aufs Knie ge¬ legt und geſeufzt: „Ich werde ihn ſehr, ſehr vermiſſen, Deinen guten Vater, beſter Karl! Nun bin ich die Letzte von den Alten unterm Oſterberge. Manchmal in dem jetzigen Lärm dort um mich her, wenn ich ſo von meinem Strickzeug am Fenſter aufſehe, kommt es mir doch wirklich vor, als gehöre auch ich nicht mehr dahin; aber ich habe es ihm ja verſprochen, daß er mich jederzeit dort in ſeines Vaters und ſeinem eigenen alten Weſen noch vorfinden ſoll, und ſo muß ich noch etwas bleiben. Wer verdunkelt Einem nun noch mit einem: ‚Auf ein Wort, Frau Nachbarin!‘ das Fenſter, um Einen feſter in der Gewißheit, zur Seite und gegenüber die beſte liebſte Nachbarſchaft zu haben, nach dem Vorgucken und Beſuch wieder ſich ſelbſt zu laſſen? Kommt ihr jungen Leute, ſo könnte man ſich ſo vorkommen wie ein ein halb Jahrhundert vor der Erlöſung für einen Augenblick aufgewachtes Dorn¬ röſchen, das ſich nicht ſeinem Prinzen in Mantel, Federbarett und Tricot, ſondern einem durch die Hecke gedrungenen Liebhaberphotographen gegenüber findet. Ja ſieh, lieber armer Junge, ſo ſchwatzt die alte

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Zitationshilfe: Raabe, Wilhelm: Die Akten des Vogelsangs. Berlin, 1896, S. 205. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/raabe_akten_1896/215>, abgerufen am 24.11.2024.