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Raabe, Wilhelm: Die Akten des Vogelsangs. Berlin, 1896.

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Die Nachbarschaft! Ein Wort, das leider Gottes
immer mehr Menschen zu einem Begriff wird, in den
sie sich nur mühsam und mit Aufbietung von Nach¬
denken und Überdenken von allerlei behaglicher Lektüre
hineinzufinden wissen. Unsereinem, der noch eine
Nachbarschaft hatte, geht immer ein Schauder über,
wenn er hört oder liest, daß wieder eine Stadt im
deutschen Volk das erste Hunderttausend ihrer Ein¬
wohnerzahl überschritten habe, somit eine Großstadt
und aller Ehren und Vorzüge einer solchen theilhaftig
geworden sei, um das Nachbarschaftsgefühl dafür hin¬
zugeben.

Wir zu unserer Kinderzeit hatten es noch, dieses
Gefühl des nachbarschaftlichen Zusammenwohnens und
Antheilnehmens. Wir kannten einander noch im "Vogel¬
sang" und wußten voneinander, und wenn wir uns
auch sehr häufig sehr übereinander ärgerten, so
nahmen wir doch zu anderen Zeiten auch wieder sehr
Antheil im guten Sinne an des Nachbars und der
Nachbarin Wohl und Wehe. Auch Gärten, die an¬
einander grenzten und ihre Obstbaumzweige einander
zureichten und ihre Zwetschen, Kirschen, Pflaumen,
Äpfel und Birnen über lebendige Hecken weg nach¬
barschaftlich austheilten, gab es da noch zu unserer
Zeit, als die Stadt noch nicht das "erste Hundert¬
tausend" überschritten hatte, und wir: Helene Trotzen¬

Die Nachbarſchaft! Ein Wort, das leider Gottes
immer mehr Menſchen zu einem Begriff wird, in den
ſie ſich nur mühſam und mit Aufbietung von Nach¬
denken und Überdenken von allerlei behaglicher Lektüre
hineinzufinden wiſſen. Unſereinem, der noch eine
Nachbarſchaft hatte, geht immer ein Schauder über,
wenn er hört oder lieſt, daß wieder eine Stadt im
deutſchen Volk das erſte Hunderttauſend ihrer Ein¬
wohnerzahl überſchritten habe, ſomit eine Großſtadt
und aller Ehren und Vorzüge einer ſolchen theilhaftig
geworden ſei, um das Nachbarſchaftsgefühl dafür hin¬
zugeben.

Wir zu unſerer Kinderzeit hatten es noch, dieſes
Gefühl des nachbarſchaftlichen Zuſammenwohnens und
Antheilnehmens. Wir kannten einander noch im „Vogel¬
ſang“ und wußten voneinander, und wenn wir uns
auch ſehr häufig ſehr übereinander ärgerten, ſo
nahmen wir doch zu anderen Zeiten auch wieder ſehr
Antheil im guten Sinne an des Nachbars und der
Nachbarin Wohl und Wehe. Auch Gärten, die an¬
einander grenzten und ihre Obſtbaumzweige einander
zureichten und ihre Zwetſchen, Kirſchen, Pflaumen,
Äpfel und Birnen über lebendige Hecken weg nach¬
barſchaftlich austheilten, gab es da noch zu unſerer
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[10/0020] Die Nachbarſchaft! Ein Wort, das leider Gottes immer mehr Menſchen zu einem Begriff wird, in den ſie ſich nur mühſam und mit Aufbietung von Nach¬ denken und Überdenken von allerlei behaglicher Lektüre hineinzufinden wiſſen. Unſereinem, der noch eine Nachbarſchaft hatte, geht immer ein Schauder über, wenn er hört oder lieſt, daß wieder eine Stadt im deutſchen Volk das erſte Hunderttauſend ihrer Ein¬ wohnerzahl überſchritten habe, ſomit eine Großſtadt und aller Ehren und Vorzüge einer ſolchen theilhaftig geworden ſei, um das Nachbarſchaftsgefühl dafür hin¬ zugeben. Wir zu unſerer Kinderzeit hatten es noch, dieſes Gefühl des nachbarſchaftlichen Zuſammenwohnens und Antheilnehmens. Wir kannten einander noch im „Vogel¬ ſang“ und wußten voneinander, und wenn wir uns auch ſehr häufig ſehr übereinander ärgerten, ſo nahmen wir doch zu anderen Zeiten auch wieder ſehr Antheil im guten Sinne an des Nachbars und der Nachbarin Wohl und Wehe. Auch Gärten, die an¬ einander grenzten und ihre Obſtbaumzweige einander zureichten und ihre Zwetſchen, Kirſchen, Pflaumen, Äpfel und Birnen über lebendige Hecken weg nach¬ barſchaftlich austheilten, gab es da noch zu unſerer Zeit, als die Stadt noch nicht das „erſte Hundert¬ tauſend“ überſchritten hatte, und wir: Helene Trotzen¬

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Zitationshilfe: Raabe, Wilhelm: Die Akten des Vogelsangs. Berlin, 1896, S. 10. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/raabe_akten_1896/20>, abgerufen am 24.11.2024.