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Raabe, Wilhelm: Die Akten des Vogelsangs. Berlin, 1896.

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"Willst Du uns den Brief nicht lesen lassen,
oder vorlesen, Velten?"

Er holte ihn zögernd aus der Tasche, hielt ihn
mir hin und zog ihn rasch zurück.

"Nein! Man muß zu viel zwischen den Zeilen
lesen. Was könnt ihr davon wissen? Du gar
nichts, Karl; vielleicht noch eher etwas der Träumer
Leon da. Es ist aber Unsinn; schade, daß wir nicht
Ihr Fräulein Schwester hier mit uns haben, des
Beaux. Die würde freilich mit ihren lieben, treuen,
klugen Augen am klarsten sehen. Meine Mutter
meint, das Kind sei für uns verloren, der Aff' habe
sich schon zu hoch für den Vogelsang verstiegen und
Mr. Charles Trotzendorff sein Recht an ihn mit
Zinsen genommen. Möglich! Aber was hilft ihre
Überzeugung mir? Ich höre das arme Ding zwischen
seinen lachenden Zeilen kreischen und meinen Namen
rufen wie damals dort oben auf dem Ast. Wie
damals muß ich ihr nach! Aber diesmal wirst Du
nicht zum Nachbar Hartleben um Stricke und
Leitern herunterlaufen dürfen, alter Junge. Ich
hole sie mir aus ihrer Verkletterung diesmal ohne
fremde Hilfe. Niemals habe ich in meinem Leben
etwas so sicher gewußt wie das! Jawohl, wenn
Ihre Schwester, wenn Leonie hier wäre, die würde
mit den rechten, mit meinen Augen zwischen den

„Willſt Du uns den Brief nicht leſen laſſen,
oder vorleſen, Velten?“

Er holte ihn zögernd aus der Taſche, hielt ihn
mir hin und zog ihn raſch zurück.

„Nein! Man muß zu viel zwiſchen den Zeilen
leſen. Was könnt ihr davon wiſſen? Du gar
nichts, Karl; vielleicht noch eher etwas der Träumer
Leon da. Es iſt aber Unſinn; ſchade, daß wir nicht
Ihr Fräulein Schweſter hier mit uns haben, des
Beaux. Die würde freilich mit ihren lieben, treuen,
klugen Augen am klarſten ſehen. Meine Mutter
meint, das Kind ſei für uns verloren, der Aff' habe
ſich ſchon zu hoch für den Vogelſang verſtiegen und
Mr. Charles Trotzendorff ſein Recht an ihn mit
Zinſen genommen. Möglich! Aber was hilft ihre
Überzeugung mir? Ich höre das arme Ding zwiſchen
ſeinen lachenden Zeilen kreiſchen und meinen Namen
rufen wie damals dort oben auf dem Aſt. Wie
damals muß ich ihr nach! Aber diesmal wirſt Du
nicht zum Nachbar Hartleben um Stricke und
Leitern herunterlaufen dürfen, alter Junge. Ich
hole ſie mir aus ihrer Verkletterung diesmal ohne
fremde Hilfe. Niemals habe ich in meinem Leben
etwas ſo ſicher gewußt wie das! Jawohl, wenn
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[146/0156] „Willſt Du uns den Brief nicht leſen laſſen, oder vorleſen, Velten?“ Er holte ihn zögernd aus der Taſche, hielt ihn mir hin und zog ihn raſch zurück. „Nein! Man muß zu viel zwiſchen den Zeilen leſen. Was könnt ihr davon wiſſen? Du gar nichts, Karl; vielleicht noch eher etwas der Träumer Leon da. Es iſt aber Unſinn; ſchade, daß wir nicht Ihr Fräulein Schweſter hier mit uns haben, des Beaux. Die würde freilich mit ihren lieben, treuen, klugen Augen am klarſten ſehen. Meine Mutter meint, das Kind ſei für uns verloren, der Aff' habe ſich ſchon zu hoch für den Vogelſang verſtiegen und Mr. Charles Trotzendorff ſein Recht an ihn mit Zinſen genommen. Möglich! Aber was hilft ihre Überzeugung mir? Ich höre das arme Ding zwiſchen ſeinen lachenden Zeilen kreiſchen und meinen Namen rufen wie damals dort oben auf dem Aſt. Wie damals muß ich ihr nach! Aber diesmal wirſt Du nicht zum Nachbar Hartleben um Stricke und Leitern herunterlaufen dürfen, alter Junge. Ich hole ſie mir aus ihrer Verkletterung diesmal ohne fremde Hilfe. Niemals habe ich in meinem Leben etwas ſo ſicher gewußt wie das! Jawohl, wenn Ihre Schweſter, wenn Leonie hier wäre, die würde mit den rechten, mit meinen Augen zwiſchen den

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Zitationshilfe: Raabe, Wilhelm: Die Akten des Vogelsangs. Berlin, 1896, S. 146. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/raabe_akten_1896/156>, abgerufen am 28.11.2024.