Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Quantz, Johann Joachim: Versuch einer Anweisung die Flöte traversiere zu spielen. Berlin, 1752.

Bild:
<< vorherige Seite
und eine Musik zu beurtheilen sey.
62. §.

Jn der Composition der itzigen italiänischen Jnstrumenti-
sten,
wenige davon ausgenommen, findet man mehr Frechheit und verwor-
rene Gedanken, als Bescheidenheit, Vernunft, und Ordnung. Sie suchen
zwar viel Neues zu erfinden; sie verfallen aber dadurch in viele nieder-
trächtige und gemeine Gänge, die mit dem, was sie noch Gutes unter-
mischen, wenig Gemeinschaft haben. Sie bringen nicht mehr solche
rührende Melodieen vor, als ehedem. Jhre Grundstimmen sind weder
prächtig noch melodisch, und haben keinen sonderlichen Zusammenhang
mit der Hauptstimme. Jn ihren Mittelstimmen findet man weder Arbeit,
noch etwas gewagtes, sondern nur eine trockene Harmonie. Auch in
ihren Solo können sie einen Baß, der zuweilen einige melodische Bewe-
gungen machet, nicht ausstehen. Sie lieben es vielmehr, wenn der
Baß fein trocken einhergeht, nur selten anschlägt, oder immer auf einem
Tone trummelt. Sie geben vor, daß der Concertist dadurch am we-
nigsten bedecket werde. Sie schämen sich aber vielleicht zu sagen, daß sie
den Baß deswegen auf solche Art setzen, oder setzen lassen, damit der,
der Harmonie und ihrer Regeln ganz unkundige Virtuose, nicht so oft
Gefahr laufe, seine Unwissenheit zu verrathen. Auf den ganzen Ver-
halt der Sache, und auf das Metrum, geben sie wenig Achtung. Jn
der Modulation nehmen sie sich zu viel Freyheit. Sie suchen nicht die
Leidenschaften so auszudrücken und zu vermischen, wie es in der Sing-
musik üblich ist. Mit einem Worte, sie haben den Geschmack ihrer
Vorfahren, in der Jnstrumentalmusik, zwar verändert, aber nicht ver-
bessert.

63. §.

Jn der Vocalcompositionder heutigen Nationalitaliäner
ist die Rolle der Singstimme das Beste. Hierauf wenden sie den meisten
Fleiß; sie machen sie dem Sänger bequem, und bringen darinne nicht selten ar-

tige
dasselbe seinen vorigen Glanz gänzlich verlieren werde. Glücklich ist also das Or-
chester, welches davon befreyet bleibt. Zu verwundern aber ist, daß solche italiä-
nische Jnstrumentisten, von denen hier die Rede ist, oftmals bey solchen Musik-
verständigen Beyfall und Schutz finden, von welchen man es am allerwenigsten
vermuthen sollte; bey solchen Tonkünstlern, deren Einsicht und gereinigter Ge-
schmack, über dergleichen bizarre Art zu spielen, viel zu weit erhaben ist, als
daß sie einigen Gefallen daran finden könnten. Oftmals geschieht es wohl nur
aus Verstellung, oder wer weis aus was noch für andern Ursachen.
R r
und eine Muſik zu beurtheilen ſey.
62. §.

Jn der Compoſition der itzigen italiaͤniſchen Jnſtrumenti-
ſten,
wenige davon ausgenommen, findet man mehr Frechheit und verwor-
rene Gedanken, als Beſcheidenheit, Vernunft, und Ordnung. Sie ſuchen
zwar viel Neues zu erfinden; ſie verfallen aber dadurch in viele nieder-
traͤchtige und gemeine Gaͤnge, die mit dem, was ſie noch Gutes unter-
miſchen, wenig Gemeinſchaft haben. Sie bringen nicht mehr ſolche
ruͤhrende Melodieen vor, als ehedem. Jhre Grundſtimmen ſind weder
praͤchtig noch melodiſch, und haben keinen ſonderlichen Zuſammenhang
mit der Hauptſtimme. Jn ihren Mittelſtimmen findet man weder Arbeit,
noch etwas gewagtes, ſondern nur eine trockene Harmonie. Auch in
ihren Solo koͤnnen ſie einen Baß, der zuweilen einige melodiſche Bewe-
gungen machet, nicht ausſtehen. Sie lieben es vielmehr, wenn der
Baß fein trocken einhergeht, nur ſelten anſchlaͤgt, oder immer auf einem
Tone trummelt. Sie geben vor, daß der Concertiſt dadurch am we-
nigſten bedecket werde. Sie ſchaͤmen ſich aber vielleicht zu ſagen, daß ſie
den Baß deswegen auf ſolche Art ſetzen, oder ſetzen laſſen, damit der,
der Harmonie und ihrer Regeln ganz unkundige Virtuoſe, nicht ſo oft
Gefahr laufe, ſeine Unwiſſenheit zu verrathen. Auf den ganzen Ver-
halt der Sache, und auf das Metrum, geben ſie wenig Achtung. Jn
der Modulation nehmen ſie ſich zu viel Freyheit. Sie ſuchen nicht die
Leidenſchaften ſo auszudruͤcken und zu vermiſchen, wie es in der Sing-
muſik uͤblich iſt. Mit einem Worte, ſie haben den Geſchmack ihrer
Vorfahren, in der Jnſtrumentalmuſik, zwar veraͤndert, aber nicht ver-
beſſert.

63. §.

Jn der Vocalcompoſitionder heutigen Nationalitaliaͤner
iſt die Rolle der Singſtimme das Beſte. Hierauf wenden ſie den meiſten
Fleiß; ſie machen ſie dem Saͤnger bequem, und bringen darinne nicht ſelten ar-

tige
daſſelbe ſeinen vorigen Glanz gaͤnzlich verlieren werde. Gluͤcklich iſt alſo das Or-
cheſter, welches davon befreyet bleibt. Zu verwundern aber iſt, daß ſolche italiaͤ-
niſche Jnſtrumentiſten, von denen hier die Rede iſt, oftmals bey ſolchen Muſik-
verſtaͤndigen Beyfall und Schutz finden, von welchen man es am allerwenigſten
vermuthen ſollte; bey ſolchen Tonkuͤnſtlern, deren Einſicht und gereinigter Ge-
ſchmack, uͤber dergleichen bizarre Art zu ſpielen, viel zu weit erhaben iſt, als
daß ſie einigen Gefallen daran finden koͤnnten. Oftmals geſchieht es wohl nur
aus Verſtellung, oder wer weis aus was noch fuͤr andern Urſachen.
R r
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <pb facs="#f0331" n="313"/>
            <fw place="top" type="header"> <hi rendition="#b">und eine Mu&#x017F;ik zu beurtheilen &#x017F;ey.</hi> </fw><lb/>
            <note xml:id="f12" prev="#f11" place="foot">da&#x017F;&#x017F;elbe &#x017F;einen vorigen Glanz ga&#x0364;nzlich verlieren werde. Glu&#x0364;cklich i&#x017F;t al&#x017F;o das Or-<lb/>
che&#x017F;ter, welches davon befreyet bleibt. Zu verwundern aber i&#x017F;t, daß &#x017F;olche italia&#x0364;-<lb/>
ni&#x017F;che Jn&#x017F;trumenti&#x017F;ten, von denen hier die Rede i&#x017F;t, oftmals bey &#x017F;olchen Mu&#x017F;ik-<lb/>
ver&#x017F;ta&#x0364;ndigen Beyfall und Schutz finden, von welchen man es am allerwenig&#x017F;ten<lb/>
vermuthen &#x017F;ollte; bey &#x017F;olchen Tonku&#x0364;n&#x017F;tlern, deren Ein&#x017F;icht und gereinigter Ge-<lb/>
&#x017F;chmack, u&#x0364;ber dergleichen bizarre Art zu &#x017F;pielen, viel zu weit erhaben i&#x017F;t, als<lb/>
daß &#x017F;ie einigen Gefallen daran finden ko&#x0364;nnten. Oftmals ge&#x017F;chieht es wohl nur<lb/>
aus Ver&#x017F;tellung, oder wer weis aus was noch fu&#x0364;r andern Ur&#x017F;achen.</note>
          </div><lb/>
          <div n="3">
            <head>62. §.</head><lb/>
            <p>Jn der <hi rendition="#fr">Compo&#x017F;ition der itzigen italia&#x0364;ni&#x017F;chen Jn&#x017F;trumenti-<lb/>
&#x017F;ten,</hi> wenige davon ausgenommen, findet man mehr Frechheit und verwor-<lb/>
rene Gedanken, als Be&#x017F;cheidenheit, Vernunft, und Ordnung. Sie &#x017F;uchen<lb/>
zwar viel Neues zu erfinden; &#x017F;ie verfallen aber dadurch in viele nieder-<lb/>
tra&#x0364;chtige und gemeine Ga&#x0364;nge, die mit dem, was &#x017F;ie noch Gutes unter-<lb/>
mi&#x017F;chen, wenig Gemein&#x017F;chaft haben. Sie bringen nicht mehr &#x017F;olche<lb/>
ru&#x0364;hrende Melodieen vor, als ehedem. Jhre Grund&#x017F;timmen &#x017F;ind weder<lb/>
pra&#x0364;chtig noch melodi&#x017F;ch, und haben keinen &#x017F;onderlichen Zu&#x017F;ammenhang<lb/>
mit der Haupt&#x017F;timme. Jn ihren Mittel&#x017F;timmen findet man weder Arbeit,<lb/>
noch etwas gewagtes, &#x017F;ondern nur eine trockene Harmonie. Auch in<lb/>
ihren Solo ko&#x0364;nnen &#x017F;ie einen Baß, der zuweilen einige melodi&#x017F;che Bewe-<lb/>
gungen machet, nicht aus&#x017F;tehen. Sie lieben es vielmehr, wenn der<lb/>
Baß fein trocken einhergeht, nur &#x017F;elten an&#x017F;chla&#x0364;gt, oder immer auf einem<lb/>
Tone trummelt. Sie geben vor, daß der Concerti&#x017F;t dadurch am we-<lb/>
nig&#x017F;ten bedecket werde. Sie &#x017F;cha&#x0364;men &#x017F;ich aber vielleicht zu &#x017F;agen, daß &#x017F;ie<lb/>
den Baß deswegen auf &#x017F;olche Art &#x017F;etzen, oder &#x017F;etzen la&#x017F;&#x017F;en, damit der,<lb/>
der Harmonie und ihrer Regeln ganz unkundige Virtuo&#x017F;e, nicht &#x017F;o oft<lb/>
Gefahr laufe, &#x017F;eine Unwi&#x017F;&#x017F;enheit zu verrathen. Auf den ganzen Ver-<lb/>
halt der Sache, und auf das Metrum, geben &#x017F;ie wenig Achtung. Jn<lb/>
der Modulation nehmen &#x017F;ie &#x017F;ich zu viel Freyheit. Sie &#x017F;uchen nicht die<lb/>
Leiden&#x017F;chaften &#x017F;o auszudru&#x0364;cken und zu vermi&#x017F;chen, wie es in der Sing-<lb/>
mu&#x017F;ik u&#x0364;blich i&#x017F;t. Mit einem Worte, &#x017F;ie haben den Ge&#x017F;chmack ihrer<lb/>
Vorfahren, in der Jn&#x017F;trumentalmu&#x017F;ik, zwar vera&#x0364;ndert, aber nicht ver-<lb/>
be&#x017F;&#x017F;ert.</p>
          </div><lb/>
          <div n="3">
            <head>63. §.</head><lb/>
            <p>Jn der <hi rendition="#fr">Vocalcompo&#x017F;itionder heutigen Nationalitalia&#x0364;ner</hi><lb/>
i&#x017F;t die Rolle der Sing&#x017F;timme das Be&#x017F;te. Hierauf wenden &#x017F;ie den mei&#x017F;ten<lb/>
Fleiß; &#x017F;ie machen &#x017F;ie dem Sa&#x0364;nger bequem, und bringen darinne nicht &#x017F;elten ar-<lb/>
<fw place="bottom" type="sig">R r</fw><fw place="bottom" type="catch">tige</fw><lb/></p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[313/0331] und eine Muſik zu beurtheilen ſey. 62. §. Jn der Compoſition der itzigen italiaͤniſchen Jnſtrumenti- ſten, wenige davon ausgenommen, findet man mehr Frechheit und verwor- rene Gedanken, als Beſcheidenheit, Vernunft, und Ordnung. Sie ſuchen zwar viel Neues zu erfinden; ſie verfallen aber dadurch in viele nieder- traͤchtige und gemeine Gaͤnge, die mit dem, was ſie noch Gutes unter- miſchen, wenig Gemeinſchaft haben. Sie bringen nicht mehr ſolche ruͤhrende Melodieen vor, als ehedem. Jhre Grundſtimmen ſind weder praͤchtig noch melodiſch, und haben keinen ſonderlichen Zuſammenhang mit der Hauptſtimme. Jn ihren Mittelſtimmen findet man weder Arbeit, noch etwas gewagtes, ſondern nur eine trockene Harmonie. Auch in ihren Solo koͤnnen ſie einen Baß, der zuweilen einige melodiſche Bewe- gungen machet, nicht ausſtehen. Sie lieben es vielmehr, wenn der Baß fein trocken einhergeht, nur ſelten anſchlaͤgt, oder immer auf einem Tone trummelt. Sie geben vor, daß der Concertiſt dadurch am we- nigſten bedecket werde. Sie ſchaͤmen ſich aber vielleicht zu ſagen, daß ſie den Baß deswegen auf ſolche Art ſetzen, oder ſetzen laſſen, damit der, der Harmonie und ihrer Regeln ganz unkundige Virtuoſe, nicht ſo oft Gefahr laufe, ſeine Unwiſſenheit zu verrathen. Auf den ganzen Ver- halt der Sache, und auf das Metrum, geben ſie wenig Achtung. Jn der Modulation nehmen ſie ſich zu viel Freyheit. Sie ſuchen nicht die Leidenſchaften ſo auszudruͤcken und zu vermiſchen, wie es in der Sing- muſik uͤblich iſt. Mit einem Worte, ſie haben den Geſchmack ihrer Vorfahren, in der Jnſtrumentalmuſik, zwar veraͤndert, aber nicht ver- beſſert. 63. §. Jn der Vocalcompoſitionder heutigen Nationalitaliaͤner iſt die Rolle der Singſtimme das Beſte. Hierauf wenden ſie den meiſten Fleiß; ſie machen ſie dem Saͤnger bequem, und bringen darinne nicht ſelten ar- tige daſſelbe ſeinen vorigen Glanz gaͤnzlich verlieren werde. Gluͤcklich iſt alſo das Or- cheſter, welches davon befreyet bleibt. Zu verwundern aber iſt, daß ſolche italiaͤ- niſche Jnſtrumentiſten, von denen hier die Rede iſt, oftmals bey ſolchen Muſik- verſtaͤndigen Beyfall und Schutz finden, von welchen man es am allerwenigſten vermuthen ſollte; bey ſolchen Tonkuͤnſtlern, deren Einſicht und gereinigter Ge- ſchmack, uͤber dergleichen bizarre Art zu ſpielen, viel zu weit erhaben iſt, als daß ſie einigen Gefallen daran finden koͤnnten. Oftmals geſchieht es wohl nur aus Verſtellung, oder wer weis aus was noch fuͤr andern Urſachen. R r

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/quantz_versuch_1752
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/quantz_versuch_1752/331
Zitationshilfe: Quantz, Johann Joachim: Versuch einer Anweisung die Flöte traversiere zu spielen. Berlin, 1752, S. 313. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/quantz_versuch_1752/331>, abgerufen am 22.12.2024.