Alle diese Dinge kamen nun freylich nicht auf einmal in ihr völliges Licht. Es gehörten fortge- setzte und von mehreren vereinigte Nachforschun- gen dazu, um eine Wahrheit nach der andern an den Tag zu bringen. Wie viele Vorurtheile, de- nen Erziehung, Ansehen, Zeitalter und andere Verhältnisse so tiefe Wurzeln gegeben hatten, muß- ten dabey überwunden werden? Was für Schwie- rigkeiten legten sich noch in den Weg, wo bald päbstliche und bischöfliche Gewalt, bald fürchter- liche Vereinigung ganzer Orden, bald Widersetzung weltlicher Obrigkeit, bald Collision in Familien, Freundschaften, Versorgungsaussichten u. s. w. in die Quer kamen? Also war es allerdings zu be- wundern, wie in so wenigen Jahren vor und nach dem Jahre 1521. eine so allgemeine Verbreitung der evangelischen Religionssätze hatte geschehen kön- nen. Beynahe ließ sich die unwiderstehliche Macht der Wahrheit selbst in diesem ihren bewunderns- würdigen Fortschritte nicht verkennen.
XXI.
Doch nun kam die Sache auch bald in eine solche Lage, daß es nicht gnug war, daß derglei- chen in Schriften und Schul- oder Kirchenlehren vorgetragene Wahrheiten bekannt, und mit Bey- fall aufgenommen wurden. Sondern nun kam es auch darauf an, sie in der Ausübung geltend zu machen, und die dazu nöthigen Aenderungen im Gottesdienste und in der ganzen kirchlichen Ver- fassung zu bewirken. Auch hierin kam man nun erst nach und nach zu einem gewissen Ziele. Und wie in dieser Welt in menschlichen Dingen nichts ganz vollkommenes zu erwarten ist, so gieng es auch hier nicht ohne daß menschliche Unvollkommenhei-
ten
V. Neuere Zeit. Carl V. 1519-1558.
XX.
Alle dieſe Dinge kamen nun freylich nicht auf einmal in ihr voͤlliges Licht. Es gehoͤrten fortge- ſetzte und von mehreren vereinigte Nachforſchun- gen dazu, um eine Wahrheit nach der andern an den Tag zu bringen. Wie viele Vorurtheile, de- nen Erziehung, Anſehen, Zeitalter und andere Verhaͤltniſſe ſo tiefe Wurzeln gegeben hatten, muß- ten dabey uͤberwunden werden? Was fuͤr Schwie- rigkeiten legten ſich noch in den Weg, wo bald paͤbſtliche und biſchoͤfliche Gewalt, bald fuͤrchter- liche Vereinigung ganzer Orden, bald Widerſetzung weltlicher Obrigkeit, bald Colliſion in Familien, Freundſchaften, Verſorgungsausſichten u. ſ. w. in die Quer kamen? Alſo war es allerdings zu be- wundern, wie in ſo wenigen Jahren vor und nach dem Jahre 1521. eine ſo allgemeine Verbreitung der evangeliſchen Religionsſaͤtze hatte geſchehen koͤn- nen. Beynahe ließ ſich die unwiderſtehliche Macht der Wahrheit ſelbſt in dieſem ihren bewunderns- wuͤrdigen Fortſchritte nicht verkennen.
XXI.
Doch nun kam die Sache auch bald in eine ſolche Lage, daß es nicht gnug war, daß derglei- chen in Schriften und Schul- oder Kirchenlehren vorgetragene Wahrheiten bekannt, und mit Bey- fall aufgenommen wurden. Sondern nun kam es auch darauf an, ſie in der Ausuͤbung geltend zu machen, und die dazu noͤthigen Aenderungen im Gottesdienſte und in der ganzen kirchlichen Ver- faſſung zu bewirken. Auch hierin kam man nun erſt nach und nach zu einem gewiſſen Ziele. Und wie in dieſer Welt in menſchlichen Dingen nichts ganz vollkommenes zu erwarten iſt, ſo gieng es auch hier nicht ohne daß menſchliche Unvollkommenhei-
ten
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V. Neuere Zeit. Carl V. 1519-1558.
Alle dieſe Dinge kamen nun freylich nicht auf
einmal in ihr voͤlliges Licht. Es gehoͤrten fortge-
ſetzte und von mehreren vereinigte Nachforſchun-
gen dazu, um eine Wahrheit nach der andern an
den Tag zu bringen. Wie viele Vorurtheile, de-
nen Erziehung, Anſehen, Zeitalter und andere
Verhaͤltniſſe ſo tiefe Wurzeln gegeben hatten, muß-
ten dabey uͤberwunden werden? Was fuͤr Schwie-
rigkeiten legten ſich noch in den Weg, wo bald
paͤbſtliche und biſchoͤfliche Gewalt, bald fuͤrchter-
liche Vereinigung ganzer Orden, bald Widerſetzung
weltlicher Obrigkeit, bald Colliſion in Familien,
Freundſchaften, Verſorgungsausſichten u. ſ. w. in
die Quer kamen? Alſo war es allerdings zu be-
wundern, wie in ſo wenigen Jahren vor und nach
dem Jahre 1521. eine ſo allgemeine Verbreitung
der evangeliſchen Religionsſaͤtze hatte geſchehen koͤn-
nen. Beynahe ließ ſich die unwiderſtehliche Macht
der Wahrheit ſelbſt in dieſem ihren bewunderns-
wuͤrdigen Fortſchritte nicht verkennen.
Doch nun kam die Sache auch bald in eine
ſolche Lage, daß es nicht gnug war, daß derglei-
chen in Schriften und Schul- oder Kirchenlehren
vorgetragene Wahrheiten bekannt, und mit Bey-
fall aufgenommen wurden. Sondern nun kam es
auch darauf an, ſie in der Ausuͤbung geltend zu
machen, und die dazu noͤthigen Aenderungen im
Gottesdienſte und in der ganzen kirchlichen Ver-
faſſung zu bewirken. Auch hierin kam man nun
erſt nach und nach zu einem gewiſſen Ziele. Und
wie in dieſer Welt in menſchlichen Dingen nichts
ganz vollkommenes zu erwarten iſt, ſo gieng es auch
hier nicht ohne daß menſchliche Unvollkommenhei-
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Pütter, Johann Stephan: Historische Entwickelung der heutigen Staatsverfassung des Teutschen Reichs. Bd. 1: Bis 1558. Göttingen, 1786, S. 368. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/puetter_staatsverfassung01_1786/402>, abgerufen am 22.11.2024.
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