sitzen, nämlich Grazie für ihre Roues, verführerische Formen und gewinnende Unterhaltungsgabe für ihre Dandies. Ich habe eine Zeit lang sowohl die Zirkel derjenigen besucht, die den Gipfel bewohnen, als der, welche sich in der Mitte des modischen Narren- berges, und auch derjenigen, die an seinem Fuße sich angesiedelt haben, und sehnsüchtig nach jenem für sie unerreichbaren Gipfel blicken -- selten aber fand ich eine Spur jener anziehenden Gesellschafts- kunst, jenes vollkommen und wohlthuend befriedigen- den Gleichgewichts aller socialer Talente, eben so weit entfernt von Zwang als Licenz, welches Ver- stand und Gefühl gleich angenehm anspricht, und fortwährend erregt, ohne je zu ermüden, eine Kunst, in der die Franzosen so lange fast das einzige euro- päische Vorbild waren.
Statt dessen sah ich in der Modewelt, mit weni- gen Ausnahmen, nur zu oft eine wahre Gemein- heit der Gesinnung, eine wenig gezierte Immora- lität, und den offensten Dünkel, in grober Ver- nachlässigung aller Gutherzigkeit, sich breit machen, um in einem falschen und nichtigen "Refinement" zu glänzen, welches dem gesunden Sinn noch ungenieß- barer wird, als die linkische und possirliche Preciost- tät der erklärtesten Nobodys. Man hat gesagt: La- ster und Armuth sey die widerlichste Zusammenstel- lung -- seit ich in England war, scheint mir Laster und Plumpheit noch ekelerregender.
ſitzen, nämlich Grazie für ihre Roués, verführeriſche Formen und gewinnende Unterhaltungsgabe für ihre Dandies. Ich habe eine Zeit lang ſowohl die Zirkel derjenigen beſucht, die den Gipfel bewohnen, als der, welche ſich in der Mitte des modiſchen Narren- berges, und auch derjenigen, die an ſeinem Fuße ſich angeſiedelt haben, und ſehnſüchtig nach jenem für ſie unerreichbaren Gipfel blicken — ſelten aber fand ich eine Spur jener anziehenden Geſellſchafts- kunſt, jenes vollkommen und wohlthuend befriedigen- den Gleichgewichts aller ſocialer Talente, eben ſo weit entfernt von Zwang als Licenz, welches Ver- ſtand und Gefühl gleich angenehm anſpricht, und fortwährend erregt, ohne je zu ermüden, eine Kunſt, in der die Franzoſen ſo lange faſt das einzige euro- päiſche Vorbild waren.
Statt deſſen ſah ich in der Modewelt, mit weni- gen Ausnahmen, nur zu oft eine wahre Gemein- heit der Geſinnung, eine wenig gezierte Immora- lität, und den offenſten Dünkel, in grober Ver- nachläſſigung aller Gutherzigkeit, ſich breit machen, um in einem falſchen und nichtigen „Refinement“ zu glänzen, welches dem geſunden Sinn noch ungenieß- barer wird, als die linkiſche und poſſirliche Precioſt- tät der erklärteſten Nobodys. Man hat geſagt: La- ſter und Armuth ſey die widerlichſte Zuſammenſtel- lung — ſeit ich in England war, ſcheint mir Laſter und Plumpheit noch ekelerregender.
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ſitzen, nämlich Grazie für ihre Roués, verführeriſche
Formen und gewinnende Unterhaltungsgabe für ihre
Dandies. Ich habe eine Zeit lang ſowohl die Zirkel
derjenigen beſucht, die den Gipfel bewohnen, als
der, welche ſich in der Mitte des modiſchen Narren-
berges, und auch derjenigen, die an ſeinem Fuße
ſich angeſiedelt haben, und ſehnſüchtig nach jenem
für ſie unerreichbaren Gipfel blicken — ſelten aber
fand ich eine Spur jener anziehenden Geſellſchafts-
kunſt, jenes vollkommen und wohlthuend befriedigen-
den Gleichgewichts aller ſocialer Talente, eben ſo
weit entfernt von Zwang als Licenz, welches Ver-
ſtand und Gefühl gleich angenehm anſpricht, und
fortwährend erregt, ohne je zu ermüden, eine Kunſt,
in der die Franzoſen ſo lange faſt das einzige euro-
päiſche Vorbild waren.
Statt deſſen ſah ich in der Modewelt, mit weni-
gen Ausnahmen, nur zu oft eine wahre Gemein-
heit der Geſinnung, eine wenig gezierte Immora-
lität, und den offenſten Dünkel, in grober Ver-
nachläſſigung aller Gutherzigkeit, ſich breit machen,
um in einem falſchen und nichtigen „Refinement“ zu
glänzen, welches dem geſunden Sinn noch ungenieß-
barer wird, als die linkiſche und poſſirliche Precioſt-
tät der erklärteſten Nobodys. Man hat geſagt: La-
ſter und Armuth ſey die widerlichſte Zuſammenſtel-
lung — ſeit ich in England war, ſcheint mir Laſter
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Pückler-Muskau, Hermann von: Briefe eines Verstorbenen. Bd. 4. Stuttgart, 1831, S. 402. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/pueckler_briefe04_1831/422>, abgerufen am 24.11.2024.
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