Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Pückler-Muskau, Hermann von: Briefe eines Verstorbenen. Bd. 4. Stuttgart, 1831.

Bild:
<< vorherige Seite

Bohrer, Kiesewetter, deßgleichen, und mehrere An-
dere von großem Verdienste waren nicht glücklicher.

Indem ich von der Mode rede, wäre es wohl ge-
rade hier passend, mich vor meinem Abgange aus
England noch einmal etwas weitläuftiger über das
Wesen der dortigen Gesellschaft auszulassen, das al-
lerdings einen Fremden noch mehr als Nebel, Dampf-
maschinen und Postkutschen in diesem gelobten Lande
auffallen muß. Es ist wohl nicht nöthig, hier erst
zu bemerken, daß bei solchen allgemeinen Schilderun-
gen nur das Vorherrschende ins Auge gefaßt wird,
und bei dem Tadel, den das Ganze trifft, der hun-
dert ehrenvollen Ausnahmen, die so vollkommen das
lobenswertheste Gegentheil aufstellen, nicht gedacht
werden kann.

England befindet sich, allerdings mit Berücksichti-
gung eines ganz verschiedenen allgemeinen Zeitgeistes,
dennoch in einer ähnlichen Periode wie Frankreich,
30 Jahre vor der Revolution. Es wird ihr auch
wie jenes verfallen, wenn es ihr nicht durch radi-
kale, aber successive Reform entgeht. Nah verwandte
Grundübel sind hier vorhanden, wie dort. Auf der
einen Seite: Uebermacht, Mißbrauch der Gewalt,
versteinerter Dünkel und Frivolität der Großen; auf
der andern zum allgemeinen Nationalcharakter ge-
wordner Egoismus und Habsucht beim ganzen Volke.
Die Religion ruht nicht mehr im Herzen und Ge-
müth, sondern ist eine todte Form geworden, trotz
dem ungebildetsten Katholicismus, mit weniger Ce-

Bohrer, Kieſewetter, deßgleichen, und mehrere An-
dere von großem Verdienſte waren nicht glücklicher.

Indem ich von der Mode rede, wäre es wohl ge-
rade hier paſſend, mich vor meinem Abgange aus
England noch einmal etwas weitläuftiger über das
Weſen der dortigen Geſellſchaft auszulaſſen, das al-
lerdings einen Fremden noch mehr als Nebel, Dampf-
maſchinen und Poſtkutſchen in dieſem gelobten Lande
auffallen muß. Es iſt wohl nicht nöthig, hier erſt
zu bemerken, daß bei ſolchen allgemeinen Schilderun-
gen nur das Vorherrſchende ins Auge gefaßt wird,
und bei dem Tadel, den das Ganze trifft, der hun-
dert ehrenvollen Ausnahmen, die ſo vollkommen das
lobenswertheſte Gegentheil aufſtellen, nicht gedacht
werden kann.

England befindet ſich, allerdings mit Berückſichti-
gung eines ganz verſchiedenen allgemeinen Zeitgeiſtes,
dennoch in einer ähnlichen Periode wie Frankreich,
30 Jahre vor der Revolution. Es wird ihr auch
wie jenes verfallen, wenn es ihr nicht durch radi-
kale, aber ſucceſſive Reform entgeht. Nah verwandte
Grundübel ſind hier vorhanden, wie dort. Auf der
einen Seite: Uebermacht, Mißbrauch der Gewalt,
verſteinerter Dünkel und Frivolität der Großen; auf
der andern zum allgemeinen Nationalcharakter ge-
wordner Egoismus und Habſucht beim ganzen Volke.
Die Religion ruht nicht mehr im Herzen und Ge-
müth, ſondern iſt eine todte Form geworden, trotz
dem ungebildetſten Katholicismus, mit weniger Ce-

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0411" n="391"/>
Bohrer, Kie&#x017F;ewetter, deßgleichen, und mehrere An-<lb/>
dere von großem Verdien&#x017F;te waren nicht glücklicher.</p><lb/>
          <p>Indem ich von der Mode rede, wäre es wohl ge-<lb/>
rade hier pa&#x017F;&#x017F;end, mich vor meinem Abgange aus<lb/>
England noch einmal etwas weitläuftiger über das<lb/>
We&#x017F;en der dortigen Ge&#x017F;ell&#x017F;chaft auszula&#x017F;&#x017F;en, das al-<lb/>
lerdings einen Fremden noch mehr als Nebel, Dampf-<lb/>
ma&#x017F;chinen und Po&#x017F;tkut&#x017F;chen in die&#x017F;em gelobten Lande<lb/>
auffallen muß. Es i&#x017F;t wohl nicht nöthig, hier er&#x017F;t<lb/>
zu bemerken, daß bei &#x017F;olchen allgemeinen Schilderun-<lb/>
gen nur das Vorherr&#x017F;chende ins Auge gefaßt wird,<lb/>
und bei dem Tadel, den das Ganze trifft, der hun-<lb/>
dert ehrenvollen Ausnahmen, die &#x017F;o vollkommen das<lb/>
lobenswerthe&#x017F;te Gegentheil auf&#x017F;tellen, nicht gedacht<lb/>
werden kann.</p><lb/>
          <p>England befindet &#x017F;ich, allerdings mit Berück&#x017F;ichti-<lb/>
gung eines ganz ver&#x017F;chiedenen allgemeinen Zeitgei&#x017F;tes,<lb/>
dennoch in einer ähnlichen Periode wie Frankreich,<lb/>
30 Jahre vor der Revolution. Es wird ihr auch<lb/>
wie jenes verfallen, wenn es ihr nicht durch radi-<lb/>
kale, aber &#x017F;ucce&#x017F;&#x017F;ive Reform entgeht. Nah verwandte<lb/>
Grundübel &#x017F;ind hier vorhanden, wie dort. Auf der<lb/>
einen Seite: Uebermacht, Mißbrauch der Gewalt,<lb/>
ver&#x017F;teinerter Dünkel und Frivolität der Großen; auf<lb/>
der andern zum allgemeinen Nationalcharakter ge-<lb/>
wordner Egoismus und Hab&#x017F;ucht beim ganzen Volke.<lb/>
Die Religion ruht nicht mehr im Herzen und Ge-<lb/>
müth, &#x017F;ondern i&#x017F;t eine todte Form geworden, trotz<lb/>
dem ungebildet&#x017F;ten Katholicismus, mit weniger Ce-<lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[391/0411] Bohrer, Kieſewetter, deßgleichen, und mehrere An- dere von großem Verdienſte waren nicht glücklicher. Indem ich von der Mode rede, wäre es wohl ge- rade hier paſſend, mich vor meinem Abgange aus England noch einmal etwas weitläuftiger über das Weſen der dortigen Geſellſchaft auszulaſſen, das al- lerdings einen Fremden noch mehr als Nebel, Dampf- maſchinen und Poſtkutſchen in dieſem gelobten Lande auffallen muß. Es iſt wohl nicht nöthig, hier erſt zu bemerken, daß bei ſolchen allgemeinen Schilderun- gen nur das Vorherrſchende ins Auge gefaßt wird, und bei dem Tadel, den das Ganze trifft, der hun- dert ehrenvollen Ausnahmen, die ſo vollkommen das lobenswertheſte Gegentheil aufſtellen, nicht gedacht werden kann. England befindet ſich, allerdings mit Berückſichti- gung eines ganz verſchiedenen allgemeinen Zeitgeiſtes, dennoch in einer ähnlichen Periode wie Frankreich, 30 Jahre vor der Revolution. Es wird ihr auch wie jenes verfallen, wenn es ihr nicht durch radi- kale, aber ſucceſſive Reform entgeht. Nah verwandte Grundübel ſind hier vorhanden, wie dort. Auf der einen Seite: Uebermacht, Mißbrauch der Gewalt, verſteinerter Dünkel und Frivolität der Großen; auf der andern zum allgemeinen Nationalcharakter ge- wordner Egoismus und Habſucht beim ganzen Volke. Die Religion ruht nicht mehr im Herzen und Ge- müth, ſondern iſt eine todte Form geworden, trotz dem ungebildetſten Katholicismus, mit weniger Ce-

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/pueckler_briefe04_1831
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/pueckler_briefe04_1831/411
Zitationshilfe: Pückler-Muskau, Hermann von: Briefe eines Verstorbenen. Bd. 4. Stuttgart, 1831, S. 391. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/pueckler_briefe04_1831/411>, abgerufen am 22.12.2024.