Zartheit, denn als Tyrann der Musik, wie Heinze sie nennt, rollte die Orgel dröhnend durch die uner- meßlichen Hallen, und sanft wie Frühlingsbauch be- ruhigten wieder die Stimmen lieblicher Kinder das aufgeschreckte Gemüth.
Halb schon in der Dämmerung besuchte ich nach- her noch die goldne Stadthalle, das Rathhaus, wo der Lord Mayor (nur London und York haben Lord Mayors) dreimal die Woche Gericht hält, und auch die dreimonatlichen Assisen statt finden. Es ist ein altes und schönes gothisches Gebäude. Daneben sind, neu aufgeführt, zwei Säle für die obern und untern Advokaten. In dem der obern sind in modernem bunten Glas die Wappen aller Lord Mayors in den Fenstern angebracht, denn jeder Handwerksmann hat hier ein Wappen. Gewöhnlich sieht man auch schon aus dem Inhalt desselben, weß Geistes Kind der Besitzer ist; der Kaufmann hat ein Schiff, der Holzhändler einen Balken, der Schuster einen Lei- sten etc. Die Devisen dazu fand ich aber zu vornehm gewählt. Am besten hätten sich für die drei ange- führten ohne Zweifel gepaßt, für die ersten das Lieb- lingslied der Berliner Straßenjugend: "O fliege mein Schifflein, o fliege!" beim Zweiten: "Sieh nicht den Splitter in des Fremden Auge, indem Du den Bal- ken in Deinem eignen übersiehst." Beim Dritten endlich: "Schuster bleib bei deinem Leisten!" Das Letzte aber wäre freilich zu schwierig für einen Lord Mayor!
Zartheit, denn als Tyrann der Muſik, wie Heinze ſie nennt, rollte die Orgel dröhnend durch die uner- meßlichen Hallen, und ſanft wie Frühlingsbauch be- ruhigten wieder die Stimmen lieblicher Kinder das aufgeſchreckte Gemüth.
Halb ſchon in der Dämmerung beſuchte ich nach- her noch die goldne Stadthalle, das Rathhaus, wo der Lord Mayor (nur London und York haben Lord Mayors) dreimal die Woche Gericht hält, und auch die dreimonatlichen Aſſiſen ſtatt finden. Es iſt ein altes und ſchönes gothiſches Gebäude. Daneben ſind, neu aufgeführt, zwei Säle für die obern und untern Advokaten. In dem der obern ſind in modernem bunten Glas die Wappen aller Lord Mayors in den Fenſtern angebracht, denn jeder Handwerksmann hat hier ein Wappen. Gewöhnlich ſieht man auch ſchon aus dem Inhalt deſſelben, weß Geiſtes Kind der Beſitzer iſt; der Kaufmann hat ein Schiff, der Holzhändler einen Balken, der Schuſter einen Lei- ſten ꝛc. Die Deviſen dazu fand ich aber zu vornehm gewählt. Am beſten hätten ſich für die drei ange- führten ohne Zweifel gepaßt, für die erſten das Lieb- lingslied der Berliner Straßenjugend: „O fliege mein Schifflein, o fliege!“ beim Zweiten: „Sieh nicht den Splitter in des Fremden Auge, indem Du den Bal- ken in Deinem eignen überſiehſt.“ Beim Dritten endlich: „Schuſter bleib bei deinem Leiſten!“ Das Letzte aber wäre freilich zu ſchwierig für einen Lord Mayor!
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Zartheit, denn als Tyrann der Muſik, wie Heinze
ſie nennt, rollte die Orgel dröhnend durch die uner-
meßlichen Hallen, und ſanft wie Frühlingsbauch be-
ruhigten wieder die Stimmen lieblicher Kinder das
aufgeſchreckte Gemüth.
Halb ſchon in der Dämmerung beſuchte ich nach-
her noch die goldne Stadthalle, das Rathhaus, wo
der Lord Mayor (nur London und York haben Lord
Mayors) dreimal die Woche Gericht hält, und auch die
dreimonatlichen Aſſiſen ſtatt finden. Es iſt ein altes
und ſchönes gothiſches Gebäude. Daneben ſind, neu
aufgeführt, zwei Säle für die obern und untern
Advokaten. In dem der obern ſind in modernem
bunten Glas die Wappen aller Lord Mayors in den
Fenſtern angebracht, denn jeder Handwerksmann
hat hier ein Wappen. Gewöhnlich ſieht man auch
ſchon aus dem Inhalt deſſelben, weß Geiſtes Kind
der Beſitzer iſt; der Kaufmann hat ein Schiff, der
Holzhändler einen Balken, der Schuſter einen Lei-
ſten ꝛc. Die Deviſen dazu fand ich aber zu vornehm
gewählt. Am beſten hätten ſich für die drei ange-
führten ohne Zweifel gepaßt, für die erſten das Lieb-
lingslied der Berliner Straßenjugend: „O fliege mein
Schifflein, o fliege!“ beim Zweiten: „Sieh nicht den
Splitter in des Fremden Auge, indem Du den Bal-
ken in Deinem eignen überſiehſt.“ Beim Dritten
endlich: „Schuſter bleib bei deinem Leiſten!“ Das
Letzte aber wäre freilich zu ſchwierig für einen Lord
Mayor!
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Pückler-Muskau, Hermann von: Briefe eines Verstorbenen. Bd. 4. Stuttgart, 1831, S. 185. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/pueckler_briefe04_1831/201>, abgerufen am 24.11.2024.
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