so erschien sie als das erregendste Ideal weiblicher Schönheit.
Ich war im Anschauen verloren -- da, o Himmel! glaubte ich die dunkeln Augen sich öffnen, und mich freundlich anblicken zu sehen -- die Sinne vergien- gen mir, und um vier Uhr Nachmittags erwachte ich erst.
Guten Morgen oder guten Abend also, comme il vous plaira.
Den 6ten.
Du bist wohl aus meinem letzten Gemälde nicht recht klug geworden. Es ist ein Räthsel, und bis du es erräthst, laß uns von etwas anderm sprechen.
Sage mir, warum erweckt alles durch die Kunst Abgespiegelte allein reines Wohlgefallen, während alles Wirkliche immer wenigstens eine mangelhafte Seite hat? Wir sehen die Qual des Laocoon in Mar- mor mit ungestörtem Genuß, während die Scene in der Natur uns nur Grausen erregen würde. Ein Fischmarkt in Holland vom launigen Künstler mit täuschender Treue wiedergegeben, ergötzt uns, und un- ser Vergnügen vermehrt sich, je mehr wir das Detail verfolgen -- am wirklichen aber gehen wir schleu- nig mit abgewandten Augen und Nase vorüber. Lei- den und Freuden des Helden, den der Dichter schil- dert, berühren uns mit gleichem innern Wohlgefallen, während an uns und andern die wahren Leiden schmerzen, die wahren Freuden immer noch viel zu
ſo erſchien ſie als das erregendſte Ideal weiblicher Schönheit.
Ich war im Anſchauen verloren — da, o Himmel! glaubte ich die dunkeln Augen ſich öffnen, und mich freundlich anblicken zu ſehen — die Sinne vergien- gen mir, und um vier Uhr Nachmittags erwachte ich erſt.
Guten Morgen oder guten Abend alſo, comme il vous plaira.
Den 6ten.
Du biſt wohl aus meinem letzten Gemälde nicht recht klug geworden. Es iſt ein Räthſel, und bis du es erräthſt, laß uns von etwas anderm ſprechen.
Sage mir, warum erweckt alles durch die Kunſt Abgeſpiegelte allein reines Wohlgefallen, während alles Wirkliche immer wenigſtens eine mangelhafte Seite hat? Wir ſehen die Qual des Laocoon in Mar- mor mit ungeſtörtem Genuß, während die Scene in der Natur uns nur Grauſen erregen würde. Ein Fiſchmarkt in Holland vom launigen Künſtler mit täuſchender Treue wiedergegeben, ergötzt uns, und un- ſer Vergnügen vermehrt ſich, je mehr wir das Detail verfolgen — am wirklichen aber gehen wir ſchleu- nig mit abgewandten Augen und Naſe vorüber. Lei- den und Freuden des Helden, den der Dichter ſchil- dert, berühren uns mit gleichem innern Wohlgefallen, während an uns und andern die wahren Leiden ſchmerzen, die wahren Freuden immer noch viel zu
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><p><pbfacs="#f0458"n="412"/>ſo erſchien ſie als das erregendſte Ideal weiblicher<lb/>
Schönheit.</p><lb/><p>Ich war im Anſchauen verloren — da, o Himmel!<lb/>
glaubte ich die dunkeln Augen ſich öffnen, und mich<lb/>
freundlich anblicken zu ſehen — die Sinne vergien-<lb/>
gen mir, und um vier Uhr Nachmittags erwachte ich<lb/>
erſt.</p><lb/><p>Guten Morgen oder guten Abend alſo, <hirendition="#aq">comme il<lb/>
vous plaira.</hi></p></div><lb/><milestonerendition="#hr"unit="section"/><divn="2"><opener><dateline><hirendition="#et">Den 6ten.</hi></dateline></opener><lb/><p>Du biſt wohl aus meinem letzten Gemälde nicht<lb/>
recht klug geworden. Es iſt ein Räthſel, und bis<lb/>
du es erräthſt, laß uns von etwas anderm ſprechen.</p><lb/><p>Sage mir, warum erweckt alles durch die Kunſt<lb/>
Abgeſpiegelte allein <hirendition="#g">reines</hi> Wohlgefallen, während<lb/>
alles Wirkliche immer wenigſtens eine mangelhafte<lb/>
Seite hat? Wir ſehen die Qual des Laocoon in Mar-<lb/>
mor mit ungeſtörtem Genuß, während die Scene in<lb/>
der Natur uns nur Grauſen erregen würde. Ein<lb/>
Fiſchmarkt in Holland vom launigen Künſtler mit<lb/>
täuſchender Treue wiedergegeben, ergötzt uns, und un-<lb/>ſer Vergnügen vermehrt ſich, je mehr wir das Detail<lb/>
verfolgen — am <hirendition="#g">wirklichen</hi> aber gehen wir ſchleu-<lb/>
nig mit abgewandten Augen und Naſe vorüber. Lei-<lb/>
den und Freuden des Helden, den der Dichter ſchil-<lb/>
dert, berühren uns mit gleichem innern Wohlgefallen,<lb/>
während an uns und andern die <hirendition="#g">wahren</hi> Leiden<lb/>ſchmerzen, die <hirendition="#g">wahren</hi> Freuden immer noch viel zu<lb/></p></div></div></body></text></TEI>
[412/0458]
ſo erſchien ſie als das erregendſte Ideal weiblicher
Schönheit.
Ich war im Anſchauen verloren — da, o Himmel!
glaubte ich die dunkeln Augen ſich öffnen, und mich
freundlich anblicken zu ſehen — die Sinne vergien-
gen mir, und um vier Uhr Nachmittags erwachte ich
erſt.
Guten Morgen oder guten Abend alſo, comme il
vous plaira.
Den 6ten.
Du biſt wohl aus meinem letzten Gemälde nicht
recht klug geworden. Es iſt ein Räthſel, und bis
du es erräthſt, laß uns von etwas anderm ſprechen.
Sage mir, warum erweckt alles durch die Kunſt
Abgeſpiegelte allein reines Wohlgefallen, während
alles Wirkliche immer wenigſtens eine mangelhafte
Seite hat? Wir ſehen die Qual des Laocoon in Mar-
mor mit ungeſtörtem Genuß, während die Scene in
der Natur uns nur Grauſen erregen würde. Ein
Fiſchmarkt in Holland vom launigen Künſtler mit
täuſchender Treue wiedergegeben, ergötzt uns, und un-
ſer Vergnügen vermehrt ſich, je mehr wir das Detail
verfolgen — am wirklichen aber gehen wir ſchleu-
nig mit abgewandten Augen und Naſe vorüber. Lei-
den und Freuden des Helden, den der Dichter ſchil-
dert, berühren uns mit gleichem innern Wohlgefallen,
während an uns und andern die wahren Leiden
ſchmerzen, die wahren Freuden immer noch viel zu
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Pückler-Muskau, Hermann von: Briefe eines Verstorbenen. Bd. 3. Stuttgart, 1831, S. 412. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/pueckler_briefe03_1831/458>, abgerufen am 22.12.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.