sie getreten wird, nur folgt, wo sie fürchtet, nur treu ist, wo sie Vortheil davon hat. Ein Zug mit- leidigen Spottes umschwebt die schmalen Lippen, während das dunkle Auge nachdenkend in sich selbst hineinzuschauen scheint.
Es däucht Einem im ersten Augenblick sonderbar und auffallend, daß dieser große und klassische Schrift- steller so lange auf die abgeschmackteste Weise miß- verstanden worden ist, entweder als ein moralisches Scheusal geschildert (und wie albern ist in dieser Hin- sicht die Refutation Voltaire's) oder gar die aben- teuerliche Hypothese aufgestellt, daß sein Buch eine Satyre sey! Bei näherer Betrachtung erlangt man indeß bald die Ueberzeugung: daß nur die neuere Zeit, welche endlich anfängt, die Politik aus einem höhern, wahrhaft menschlichen Gesichtspunkte zu verstehen und zu behandeln, Machiavells Fürsten richtig beur- theilen konnte.
Dieser tiefe und scharfsinnige Geist giebt wirklich den Fürsten der Willkühr -- so nenne ich aber alle die, welche sich nurpar la grace de Dieu, um ihrer selbst willen, Fürsten glauben, alle Eroberer, auch alle Glückspilze der Geschichte, denen durch ein blin- des Ohngefähr Völker geschenkt wurden, die sie für ihr Eigenthum ansahen -- dieser Art Fürsten also, sage ich, giebt er die einzige und wahre Weise an, wie sie prosperiren, die einzigen erschöpfenden Re- geln, die sie befolgen müssen, um ihre, von Haus aus auf dem Boden der Sünde und des Irrthums
ſie getreten wird, nur folgt, wo ſie fürchtet, nur treu iſt, wo ſie Vortheil davon hat. Ein Zug mit- leidigen Spottes umſchwebt die ſchmalen Lippen, während das dunkle Auge nachdenkend in ſich ſelbſt hineinzuſchauen ſcheint.
Es däucht Einem im erſten Augenblick ſonderbar und auffallend, daß dieſer große und klaſſiſche Schrift- ſteller ſo lange auf die abgeſchmackteſte Weiſe miß- verſtanden worden iſt, entweder als ein moraliſches Scheuſal geſchildert (und wie albern iſt in dieſer Hin- ſicht die Refutation Voltaire’s) oder gar die aben- teuerliche Hypotheſe aufgeſtellt, daß ſein Buch eine Satyre ſey! Bei näherer Betrachtung erlangt man indeß bald die Ueberzeugung: daß nur die neuere Zeit, welche endlich anfängt, die Politik aus einem höhern, wahrhaft menſchlichen Geſichtspunkte zu verſtehen und zu behandeln, Machiavells Fürſten richtig beur- theilen konnte.
Dieſer tiefe und ſcharfſinnige Geiſt giebt wirklich den Fürſten der Willkühr — ſo nenne ich aber alle die, welche ſich nurpar la grâce de Dieu, um ihrer ſelbſt willen, Fürſten glauben, alle Eroberer, auch alle Glückspilze der Geſchichte, denen durch ein blin- des Ohngefähr Völker geſchenkt wurden, die ſie für ihr Eigenthum anſahen — dieſer Art Fürſten alſo, ſage ich, giebt er die einzige und wahre Weiſe an, wie ſie prosperiren, die einzigen erſchöpfenden Re- geln, die ſie befolgen müſſen, um ihre, von Haus aus auf dem Boden der Sünde und des Irrthums
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ſie getreten wird, nur folgt, wo ſie fürchtet, nur
treu iſt, wo ſie Vortheil davon hat. Ein Zug mit-
leidigen Spottes umſchwebt die ſchmalen Lippen,
während das dunkle Auge nachdenkend in ſich ſelbſt
hineinzuſchauen ſcheint.
Es däucht Einem im erſten Augenblick ſonderbar
und auffallend, daß dieſer große und klaſſiſche Schrift-
ſteller ſo lange auf die abgeſchmackteſte Weiſe miß-
verſtanden worden iſt, entweder als ein moraliſches
Scheuſal geſchildert (und wie albern iſt in dieſer Hin-
ſicht die Refutation Voltaire’s) oder gar die aben-
teuerliche Hypotheſe aufgeſtellt, daß ſein Buch eine
Satyre ſey! Bei näherer Betrachtung erlangt man
indeß bald die Ueberzeugung: daß nur die neuere Zeit,
welche endlich anfängt, die Politik aus einem höhern,
wahrhaft menſchlichen Geſichtspunkte zu verſtehen
und zu behandeln, Machiavells Fürſten richtig beur-
theilen konnte.
Dieſer tiefe und ſcharfſinnige Geiſt giebt wirklich
den Fürſten der Willkühr — ſo nenne ich aber alle
die, welche ſich nur par la grâce de Dieu, um ihrer
ſelbſt willen, Fürſten glauben, alle Eroberer, auch
alle Glückspilze der Geſchichte, denen durch ein blin-
des Ohngefähr Völker geſchenkt wurden, die ſie für
ihr Eigenthum anſahen — dieſer Art Fürſten alſo,
ſage ich, giebt er die einzige und wahre Weiſe an,
wie ſie prosperiren, die einzigen erſchöpfenden Re-
geln, die ſie befolgen müſſen, um ihre, von Haus
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Pückler-Muskau, Hermann von: Briefe eines Verstorbenen. Bd. 3. Stuttgart, 1831, S. 232. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/pueckler_briefe03_1831/278>, abgerufen am 27.11.2024.
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