Glücklicherweise wurde uns das Mittagsessen nicht mit gleicher Sparsamkeit zugemessen, und die Gottes- gaben dabei durch die heiterste Unterhaltung gewürzt. Einmal beging ich jedoch einen unwillkührlichen Ver- stoß. Ich sprach nämlich scherzend von dem Kometen im Jahr 32, der der Erde oder Erdbahn näher als die bisher bekannten kommen soll, und bemerkte, daß, nach Lalande's Berechnung, ein Komet, der sich auf 50,000 Meilen der Erde näherte, eine solche Attrak- tionskraft auf sie ausüben müßte, daß er die Meeres- fluthen bis über die Spitze des Chimborasso ziehen würde. Kommt der Zwei und dreißiger uns so nahe, setzte ich hinzu, so ertrinken wir wenigstens alle auf einmal. "Verzeihen Sie, das ist jedenfalls unmög- lich," erwiederte Mistriß W .... sehr ernsthaft, "denn das wäre ja eine zweite Sündfluth, und Sie scheinen ganz vergessen zu haben, daß uns in der Bibel ver- sprochen ist, eine zweite Sündfluth solle nicht statt- finden, aber zum letztenmal die Erde durch Feuer zerstört werden. (Il faut avouer, que la faveur n'est pas grande.) Daß diese Zerstörung aber wohl nahe seyn mag," fuhr sie seufzend fort, "glaube ich selbst, denn die Unterrichtetsten unserer heiligen Männer kommen jetzt darin überein, daß wir uns wahrschein- lich im siebenten Reich der Offenbarung Johannis befinden, in welcher der Welt Ende prophezeit ist, und wo unser Heiland kommen wird uns zu richten." Wie sonderbar sind nun die Frommen! Ueber diese Aeußerung geriethen Mutter und Tochter in so hef- tigen und zuletzt erbitterten Streit, daß ich, unwür-
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Glücklicherweiſe wurde uns das Mittagseſſen nicht mit gleicher Sparſamkeit zugemeſſen, und die Gottes- gaben dabei durch die heiterſte Unterhaltung gewürzt. Einmal beging ich jedoch einen unwillkührlichen Ver- ſtoß. Ich ſprach nämlich ſcherzend von dem Kometen im Jahr 32, der der Erde oder Erdbahn näher als die bisher bekannten kommen ſoll, und bemerkte, daß, nach Lalande’s Berechnung, ein Komet, der ſich auf 50,000 Meilen der Erde näherte, eine ſolche Attrak- tionskraft auf ſie ausüben müßte, daß er die Meeres- fluthen bis über die Spitze des Chimboraſſo ziehen würde. Kommt der Zwei und dreißiger uns ſo nahe, ſetzte ich hinzu, ſo ertrinken wir wenigſtens alle auf einmal. „Verzeihen Sie, das iſt jedenfalls unmög- lich,“ erwiederte Miſtriß W .... ſehr ernſthaft, „denn das wäre ja eine zweite Sündfluth, und Sie ſcheinen ganz vergeſſen zu haben, daß uns in der Bibel ver- ſprochen iſt, eine zweite Sündfluth ſolle nicht ſtatt- finden, aber zum letztenmal die Erde durch Feuer zerſtört werden. (Il faut avouer, que la faveur n’est pas grande.) Daß dieſe Zerſtörung aber wohl nahe ſeyn mag,“ fuhr ſie ſeufzend fort, „glaube ich ſelbſt, denn die Unterrichtetſten unſerer heiligen Männer kommen jetzt darin überein, daß wir uns wahrſchein- lich im ſiebenten Reich der Offenbarung Johannis befinden, in welcher der Welt Ende prophezeit iſt, und wo unſer Heiland kommen wird uns zu richten.“ Wie ſonderbar ſind nun die Frommen! Ueber dieſe Aeußerung geriethen Mutter und Tochter in ſo hef- tigen und zuletzt erbitterten Streit, daß ich, unwür-
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Glücklicherweiſe wurde uns das Mittagseſſen nicht
mit gleicher Sparſamkeit zugemeſſen, und die Gottes-
gaben dabei durch die heiterſte Unterhaltung gewürzt.
Einmal beging ich jedoch einen unwillkührlichen Ver-
ſtoß. Ich ſprach nämlich ſcherzend von dem Kometen
im Jahr 32, der der Erde oder Erdbahn näher als
die bisher bekannten kommen ſoll, und bemerkte, daß,
nach Lalande’s Berechnung, ein Komet, der ſich auf
50,000 Meilen der Erde näherte, eine ſolche Attrak-
tionskraft auf ſie ausüben müßte, daß er die Meeres-
fluthen bis über die Spitze des Chimboraſſo ziehen
würde. Kommt der Zwei und dreißiger uns ſo nahe,
ſetzte ich hinzu, ſo ertrinken wir wenigſtens alle auf
einmal. „Verzeihen Sie, das iſt jedenfalls unmög-
lich,“ erwiederte Miſtriß W .... ſehr ernſthaft, „denn
das wäre ja eine zweite Sündfluth, und Sie ſcheinen
ganz vergeſſen zu haben, daß uns in der Bibel ver-
ſprochen iſt, eine zweite Sündfluth ſolle nicht ſtatt-
finden, aber zum letztenmal die Erde durch Feuer
zerſtört werden. (Il faut avouer, que la faveur n’est
pas grande.) Daß dieſe Zerſtörung aber wohl nahe
ſeyn mag,“ fuhr ſie ſeufzend fort, „glaube ich ſelbſt,
denn die Unterrichtetſten unſerer heiligen Männer
kommen jetzt darin überein, daß wir uns wahrſchein-
lich im ſiebenten Reich der Offenbarung Johannis
befinden, in welcher der Welt Ende prophezeit iſt,
und wo unſer Heiland kommen wird uns zu richten.“
Wie ſonderbar ſind nun die Frommen! Ueber dieſe
Aeußerung geriethen Mutter und Tochter in ſo hef-
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Pückler-Muskau, Hermann von: Briefe eines Verstorbenen. Bd. 2. München, 1830, S. 35. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/pueckler_briefe02_1830/57>, abgerufen am 22.11.2024.
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