erblickt man einen kleinen reinlichen Saal, mit acht schwarz angestrichnen hölzernen Bahren in Reihe und Glied gestellt, das Kopfende der Wand zugekehrt, das untere gegen die Zuschauer gerichtet. Die Tod- ten werden nackt darauf gelegt, und die Kleider und Effekten derselben hinter ihnen an der weißen Wand aufgehangen, so daß Jeder leicht daraus das ihm Angehörige erkennen mag. Nur ein alter Mann, mit einer ächt nationellen Franzosen-Physiognomie, Ringen in den Ohren und am Finger, lag ganz freundlich und lächelnd mit offnen Augen da, täu- schend einer Wachsfigur ähnlich, und mit einer Miene, als hätte er eben seinem Nachbar noch eine Priese anbieten wollen, wie ihn der Tod übereilt. Seine Kleider waren gut -- superbes, wie ein zer- lumpter Kerl neben mir sagte, der sie mit sehnsüchti- gen Blicken betrachtete. Am Körper war keine ge- waltsame Verletzung zu sehen, so daß den Alten wahrscheinlich der Schlag in einem entfernten Theile der Stadt, seinen Verwandten noch unbewußt, ge- troffen hatte, denn Elend schien hier nicht statt ge- funden zu haben. Einer der Wächter erzählte mir ein sonderbares Faktum, nämlich, daß im Winter die sich Ersäufenden, welches in Paris jetzt die fashionable Methode ist, sich ums Leben zu bringen, um zwei Drittel seltener sind, als im Sommer. Der Grund kann doch, so lächerlich es klingen mag, kein andrer seyn, als weil im Winter das Wasser zu kalt ist (denn zugefroren ist die Seine nur sehr sel- ten). Aber wie die Kleinigkeiten, und alltäglichen
erblickt man einen kleinen reinlichen Saal, mit acht ſchwarz angeſtrichnen hölzernen Bahren in Reihe und Glied geſtellt, das Kopfende der Wand zugekehrt, das untere gegen die Zuſchauer gerichtet. Die Tod- ten werden nackt darauf gelegt, und die Kleider und Effekten derſelben hinter ihnen an der weißen Wand aufgehangen, ſo daß Jeder leicht daraus das ihm Angehörige erkennen mag. Nur ein alter Mann, mit einer ächt nationellen Franzoſen-Phyſiognomie, Ringen in den Ohren und am Finger, lag ganz freundlich und lächelnd mit offnen Augen da, täu- ſchend einer Wachsfigur ähnlich, und mit einer Miene, als hätte er eben ſeinem Nachbar noch eine Prieſe anbieten wollen, wie ihn der Tod übereilt. Seine Kleider waren gut — superbes, wie ein zer- lumpter Kerl neben mir ſagte, der ſie mit ſehnſüchti- gen Blicken betrachtete. Am Körper war keine ge- waltſame Verletzung zu ſehen, ſo daß den Alten wahrſcheinlich der Schlag in einem entfernten Theile der Stadt, ſeinen Verwandten noch unbewußt, ge- troffen hatte, denn Elend ſchien hier nicht ſtatt ge- funden zu haben. Einer der Wächter erzählte mir ein ſonderbares Faktum, nämlich, daß im Winter die ſich Erſäufenden, welches in Paris jetzt die faſhionable Methode iſt, ſich ums Leben zu bringen, um zwei Drittel ſeltener ſind, als im Sommer. Der Grund kann doch, ſo lächerlich es klingen mag, kein andrer ſeyn, als weil im Winter das Waſſer zu kalt iſt (denn zugefroren iſt die Seine nur ſehr ſel- ten). Aber wie die Kleinigkeiten, und alltäglichen
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><p><pbfacs="#f0410"n="388"/>
erblickt man einen kleinen reinlichen Saal, mit acht<lb/>ſchwarz angeſtrichnen hölzernen Bahren in Reihe und<lb/>
Glied geſtellt, das Kopfende der Wand zugekehrt,<lb/>
das untere gegen die Zuſchauer gerichtet. Die Tod-<lb/>
ten werden nackt darauf gelegt, und die Kleider und<lb/>
Effekten derſelben hinter ihnen an der weißen Wand<lb/>
aufgehangen, ſo daß Jeder leicht daraus das ihm<lb/>
Angehörige erkennen mag. Nur ein alter Mann,<lb/>
mit einer ächt nationellen Franzoſen-Phyſiognomie,<lb/>
Ringen in den Ohren und am Finger, lag ganz<lb/>
freundlich und lächelnd mit offnen Augen da, täu-<lb/>ſchend einer Wachsfigur ähnlich, und mit einer<lb/>
Miene, als hätte er eben ſeinem Nachbar noch eine<lb/>
Prieſe anbieten wollen, wie ihn der Tod übereilt.<lb/>
Seine Kleider waren gut —<hirendition="#aq">superbes,</hi> wie ein zer-<lb/>
lumpter Kerl neben mir ſagte, der ſie mit ſehnſüchti-<lb/>
gen Blicken betrachtete. Am Körper war keine ge-<lb/>
waltſame Verletzung zu ſehen, ſo daß den Alten<lb/>
wahrſcheinlich der Schlag in einem entfernten Theile<lb/>
der Stadt, ſeinen Verwandten noch unbewußt, ge-<lb/>
troffen hatte, denn Elend ſchien hier nicht ſtatt ge-<lb/>
funden zu haben. Einer der Wächter erzählte mir<lb/>
ein ſonderbares Faktum, nämlich, daß im Winter<lb/>
die ſich Erſäufenden, welches in Paris jetzt die<lb/>
faſhionable Methode iſt, ſich ums Leben zu bringen,<lb/>
um zwei Drittel ſeltener ſind, als im Sommer.<lb/>
Der Grund kann doch, ſo lächerlich es klingen mag,<lb/>
kein andrer ſeyn, als weil im Winter das Waſſer zu<lb/>
kalt iſt (denn zugefroren iſt die Seine nur ſehr ſel-<lb/>
ten). Aber wie die Kleinigkeiten, und alltäglichen<lb/></p></div></div></body></text></TEI>
[388/0410]
erblickt man einen kleinen reinlichen Saal, mit acht
ſchwarz angeſtrichnen hölzernen Bahren in Reihe und
Glied geſtellt, das Kopfende der Wand zugekehrt,
das untere gegen die Zuſchauer gerichtet. Die Tod-
ten werden nackt darauf gelegt, und die Kleider und
Effekten derſelben hinter ihnen an der weißen Wand
aufgehangen, ſo daß Jeder leicht daraus das ihm
Angehörige erkennen mag. Nur ein alter Mann,
mit einer ächt nationellen Franzoſen-Phyſiognomie,
Ringen in den Ohren und am Finger, lag ganz
freundlich und lächelnd mit offnen Augen da, täu-
ſchend einer Wachsfigur ähnlich, und mit einer
Miene, als hätte er eben ſeinem Nachbar noch eine
Prieſe anbieten wollen, wie ihn der Tod übereilt.
Seine Kleider waren gut — superbes, wie ein zer-
lumpter Kerl neben mir ſagte, der ſie mit ſehnſüchti-
gen Blicken betrachtete. Am Körper war keine ge-
waltſame Verletzung zu ſehen, ſo daß den Alten
wahrſcheinlich der Schlag in einem entfernten Theile
der Stadt, ſeinen Verwandten noch unbewußt, ge-
troffen hatte, denn Elend ſchien hier nicht ſtatt ge-
funden zu haben. Einer der Wächter erzählte mir
ein ſonderbares Faktum, nämlich, daß im Winter
die ſich Erſäufenden, welches in Paris jetzt die
faſhionable Methode iſt, ſich ums Leben zu bringen,
um zwei Drittel ſeltener ſind, als im Sommer.
Der Grund kann doch, ſo lächerlich es klingen mag,
kein andrer ſeyn, als weil im Winter das Waſſer zu
kalt iſt (denn zugefroren iſt die Seine nur ſehr ſel-
ten). Aber wie die Kleinigkeiten, und alltäglichen
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Pückler-Muskau, Hermann von: Briefe eines Verstorbenen. Bd. 2. München, 1830, S. 388. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/pueckler_briefe02_1830/410>, abgerufen am 25.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.