aller Fassung in die Knie, und ruft Gnade! doch schon ist Vathek verschwunden, und läßt ihn vernichtet zurück. Gerechter Gott, ruft er mit dem Schmerz der Verzweiflung: Ist denn Cains Zeichen auf meiner Stirne eingebrannt, daß Fremde selbst darauf meine Schande lesen müssen! Jetzt eilt seine Tochter, die ihn nicht aus dem Auge gelassen, aus dem Saale wieder herbei, und beschwört ihn, ihr die Ursache seiner unbegreiflichen Bewegung mitzuthei- len; doch ehe ihr noch Andere folgen können, reißt er sie mit sich fort: Laß uns fliehen, meine Tochter, flüstert er ihr ins Ohr, nur Flucht und Nacht kann uns vor den Menschenaugen verbergen. Er stürzt mit ihr aus der Thür, und der Vorhang fällt.
Nach den Gesetzen Hollands war das Amt des Scharfrichters zu Amsterdam erblich, und der zu sei- nem Nachfolger designirte Sohn konnte sich, ohne ein Krüppel zu seyn, demselben nicht entziehen. Die Familie wurde als Leibeigne des Staats betrachtet, und ihre Flucht als Felonie bestraft. Auf Vandryk ruhte also die doppelte Last der damals allgemein angenommenen Unehrlichkeit seines Handwerks, und des Verbrechens, ihm heimlich entflohen zu seyn. Durch seltnes Glück in allen seinen Unternehmungen begünstigt, hatte er im Auslande ein großes Ver- mögen gewonnen, und nach so langer Zeit erst zu- rückkehrend, gehofft, unerkannt bleiben, und sein Le- ben im Vaterlande beschließen zu können, doch hatte
aller Faſſung in die Knie, und ruft Gnade! doch ſchon iſt Vathek verſchwunden, und läßt ihn vernichtet zurück. Gerechter Gott, ruft er mit dem Schmerz der Verzweiflung: Iſt denn Cains Zeichen auf meiner Stirne eingebrannt, daß Fremde ſelbſt darauf meine Schande leſen müſſen! Jetzt eilt ſeine Tochter, die ihn nicht aus dem Auge gelaſſen, aus dem Saale wieder herbei, und beſchwört ihn, ihr die Urſache ſeiner unbegreiflichen Bewegung mitzuthei- len; doch ehe ihr noch Andere folgen können, reißt er ſie mit ſich fort: Laß uns fliehen, meine Tochter, flüſtert er ihr ins Ohr, nur Flucht und Nacht kann uns vor den Menſchenaugen verbergen. Er ſtürzt mit ihr aus der Thür, und der Vorhang fällt.
Nach den Geſetzen Hollands war das Amt des Scharfrichters zu Amſterdam erblich, und der zu ſei- nem Nachfolger deſignirte Sohn konnte ſich, ohne ein Krüppel zu ſeyn, demſelben nicht entziehen. Die Familie wurde als Leibeigne des Staats betrachtet, und ihre Flucht als Felonie beſtraft. Auf Vandryk ruhte alſo die doppelte Laſt der damals allgemein angenommenen Unehrlichkeit ſeines Handwerks, und des Verbrechens, ihm heimlich entflohen zu ſeyn. Durch ſeltnes Glück in allen ſeinen Unternehmungen begünſtigt, hatte er im Auslande ein großes Ver- mögen gewonnen, und nach ſo langer Zeit erſt zu- rückkehrend, gehofft, unerkannt bleiben, und ſein Le- ben im Vaterlande beſchließen zu können, doch hatte
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aller Faſſung in die Knie, und ruft Gnade!
doch ſchon iſt Vathek verſchwunden, und läßt ihn
vernichtet zurück. Gerechter Gott, ruft er mit dem
Schmerz der Verzweiflung: Iſt denn Cains Zeichen
auf meiner Stirne eingebrannt, daß Fremde ſelbſt
darauf meine Schande leſen müſſen! Jetzt eilt ſeine
Tochter, die ihn nicht aus dem Auge gelaſſen, aus
dem Saale wieder herbei, und beſchwört ihn, ihr
die Urſache ſeiner unbegreiflichen Bewegung mitzuthei-
len; doch ehe ihr noch Andere folgen können, reißt
er ſie mit ſich fort: Laß uns fliehen, meine Tochter,
flüſtert er ihr ins Ohr, nur Flucht und Nacht kann
uns vor den Menſchenaugen verbergen. Er ſtürzt
mit ihr aus der Thür, und der Vorhang fällt.
Nach den Geſetzen Hollands war das Amt des
Scharfrichters zu Amſterdam erblich, und der zu ſei-
nem Nachfolger deſignirte Sohn konnte ſich, ohne
ein Krüppel zu ſeyn, demſelben nicht entziehen. Die
Familie wurde als Leibeigne des Staats betrachtet,
und ihre Flucht als Felonie beſtraft. Auf Vandryk
ruhte alſo die doppelte Laſt der damals allgemein
angenommenen Unehrlichkeit ſeines Handwerks, und
des Verbrechens, ihm heimlich entflohen zu ſeyn.
Durch ſeltnes Glück in allen ſeinen Unternehmungen
begünſtigt, hatte er im Auslande ein großes Ver-
mögen gewonnen, und nach ſo langer Zeit erſt zu-
rückkehrend, gehofft, unerkannt bleiben, und ſein Le-
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Pückler-Muskau, Hermann von: Briefe eines Verstorbenen. Bd. 2. München, 1830, S. 368. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/pueckler_briefe02_1830/390>, abgerufen am 22.11.2024.
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