Der wirkliche und einzige Gegenstand der Philo- sophie ist ohne Zweifel Erforschung der Wahrheit, NB. solcher Wahrheit die zu erforschen ist, denn die- ses Bestreben nur kann Früchte bringen. Etwas Unerforschliches suchen, heißt leeres Stroh dreschen. Der richtigste Weg auf welchem man aber zu der auffindbaren Wahrheit gelangen mag, wird, meines Erachtens, heute noch wie zur Zeit des Aristoteles nur der der Erfahrung und Wissenschaft bleiben. Später kann man wohl dahin gelangen, mit Recht sagen zu dürfen: Weil das Gesetz so ist, muß die Erfahrung meine Folgerung bestätigen, aber nur auf dem Wege früherer Erfahrung hatte man doch erst dieses Gesetz gefunden. Lalande konnte daher sehr wohl a priori behaupten, daß es sich mit den Verhältnissen gewisser Sterne so und nicht anders verhalten müße, obgleich dem Ansehen nach richtige Beobachtungen das Gegentheil zu beweisen schienen, weil er die unwandelbare Regel schon wußte, aber ohne Newton's fallenden Apfel u. s. w., d. h. ohne die frühere und fortgesetzte Beobachtung einzelner Erscheinungen der Natur, und hierdurch gefun- dene Wahrheiten, wären die Geheimnisse des Him- mels uns noch ein Buch mit sieben Siegeln.
Soll nun die Philosophie die Wahrheit erforschen, so muß sie es gewiß vor Allen in Bezug auf den Menschen versuchen. Geschichte der Menschheit im weitesten Sinne, und was daraus zum Behuf der Gegenwart und Zukunft abzuleiten ist, wird also
Der wirkliche und einzige Gegenſtand der Philo- ſophie iſt ohne Zweifel Erforſchung der Wahrheit, NB. ſolcher Wahrheit die zu erforſchen iſt, denn die- ſes Beſtreben nur kann Früchte bringen. Etwas Unerforſchliches ſuchen, heißt leeres Stroh dreſchen. Der richtigſte Weg auf welchem man aber zu der auffindbaren Wahrheit gelangen mag, wird, meines Erachtens, heute noch wie zur Zeit des Ariſtoteles nur der der Erfahrung und Wiſſenſchaft bleiben. Später kann man wohl dahin gelangen, mit Recht ſagen zu dürfen: Weil das Geſetz ſo iſt, muß die Erfahrung meine Folgerung beſtätigen, aber nur auf dem Wege früherer Erfahrung hatte man doch erſt dieſes Geſetz gefunden. Lalande konnte daher ſehr wohl a priori behaupten, daß es ſich mit den Verhältniſſen gewiſſer Sterne ſo und nicht anders verhalten müße, obgleich dem Anſehen nach richtige Beobachtungen das Gegentheil zu beweiſen ſchienen, weil er die unwandelbare Regel ſchon wußte, aber ohne Newton’s fallenden Apfel u. ſ. w., d. h. ohne die frühere und fortgeſetzte Beobachtung einzelner Erſcheinungen der Natur, und hierdurch gefun- dene Wahrheiten, wären die Geheimniſſe des Him- mels uns noch ein Buch mit ſieben Siegeln.
Soll nun die Philoſophie die Wahrheit erforſchen, ſo muß ſie es gewiß vor Allen in Bezug auf den Menſchen verſuchen. Geſchichte der Menſchheit im weiteſten Sinne, und was daraus zum Behuf der Gegenwart und Zukunft abzuleiten iſt, wird alſo
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Der wirkliche und einzige Gegenſtand der Philo-
ſophie iſt ohne Zweifel Erforſchung der Wahrheit,
NB. ſolcher Wahrheit die zu erforſchen iſt, denn die-
ſes Beſtreben nur kann Früchte bringen. Etwas
Unerforſchliches ſuchen, heißt leeres Stroh dreſchen.
Der richtigſte Weg auf welchem man aber zu der
auffindbaren Wahrheit gelangen mag, wird, meines
Erachtens, heute noch wie zur Zeit des Ariſtoteles
nur der der Erfahrung und Wiſſenſchaft bleiben.
Später kann man wohl dahin gelangen, mit Recht
ſagen zu dürfen: Weil das Geſetz ſo iſt, muß die
Erfahrung meine Folgerung beſtätigen, aber nur
auf dem Wege früherer Erfahrung hatte man doch
erſt dieſes Geſetz gefunden. Lalande konnte daher
ſehr wohl a priori behaupten, daß es ſich mit den
Verhältniſſen gewiſſer Sterne ſo und nicht anders
verhalten müße, obgleich dem Anſehen nach richtige
Beobachtungen das Gegentheil zu beweiſen ſchienen,
weil er die unwandelbare Regel ſchon wußte, aber
ohne Newton’s fallenden Apfel u. ſ. w., d. h. ohne
die frühere und fortgeſetzte Beobachtung einzelner
Erſcheinungen der Natur, und hierdurch gefun-
dene Wahrheiten, wären die Geheimniſſe des Him-
mels uns noch ein Buch mit ſieben Siegeln.
Soll nun die Philoſophie die Wahrheit erforſchen,
ſo muß ſie es gewiß vor Allen in Bezug auf den
Menſchen verſuchen. Geſchichte der Menſchheit im
weiteſten Sinne, und was daraus zum Behuf der
Gegenwart und Zukunft abzuleiten iſt, wird alſo
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Pückler-Muskau, Hermann von: Briefe eines Verstorbenen. Bd. 2. München, 1830, S. 230. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/pueckler_briefe02_1830/252>, abgerufen am 23.11.2024.
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