So schön und herrlich die Worte Moral und Tu- gend lauten, praktisch heilsam für das irdische Wohl der menschlichen Gesellschaft wird doch nur die allgemeine klare Erkenntniß derselben als das Nütz- liche seyn. Wer wirklich einsieht, daß der Sündi- gende dem Wilden gleicht, welcher den ganzen Baum umhaut, um zu einer einzigen, oft sauren, Frucht zu gelangen, der Tugendhafte aber, wie der verstän- dige Gärtner handelt, der, die Reife abwartend, die süßen Früchte alle pflückt, mit dem frohen Bewußt- seyn, daß er deshalb den Baum an keiner folgenden Erndte verhindert habe -- dessen Tugend wird wahrscheinlich die sicherste bleiben. Je erleuchteter also die Menschen im Allgemeinen über das find, was ihnen frommt, desto frommer, d. h. besser und milder müssen auch ihre Sitten, unter und ge- geneinander selbst, werden. Dann wird auch bald die Wechselwirkung im wohlthätigen Zirkel gehen -- nämlich aufgeklärtere Individuen eine bessere Ver- fassung und Regierung gründen, und diese wiederum die Aufklärung der Einzelnen vermehren. Käme es nun endlich dahin, daß eine solche vernunftgemäße höhere Erziehung uns von den Chimären unklarer Zeiten gänzlich befreite, Religionszwang unter die Absurditäten verwiese, Liebe und Tugend aber, als eine zur glücklichen Existenz der menschlichen Gesell- schaft innern und äußern Nothwendigkeit, klar er- kennen ließe, zugleich aber durch weise und feste po- litische Institutionen, aus dieser Ueberzeugung ent- sproßen, auch zur fortwährenden Beibehaltung der-
So ſchön und herrlich die Worte Moral und Tu- gend lauten, praktiſch heilſam für das irdiſche Wohl der menſchlichen Geſellſchaft wird doch nur die allgemeine klare Erkenntniß derſelben als das Nütz- liche ſeyn. Wer wirklich einſieht, daß der Sündi- gende dem Wilden gleicht, welcher den ganzen Baum umhaut, um zu einer einzigen, oft ſauren, Frucht zu gelangen, der Tugendhafte aber, wie der verſtän- dige Gärtner handelt, der, die Reife abwartend, die ſüßen Früchte alle pflückt, mit dem frohen Bewußt- ſeyn, daß er deshalb den Baum an keiner folgenden Erndte verhindert habe — deſſen Tugend wird wahrſcheinlich die ſicherſte bleiben. Je erleuchteter alſo die Menſchen im Allgemeinen über das find, was ihnen frommt, deſto frommer, d. h. beſſer und milder müſſen auch ihre Sitten, unter und ge- geneinander ſelbſt, werden. Dann wird auch bald die Wechſelwirkung im wohlthätigen Zirkel gehen — nämlich aufgeklärtere Individuen eine beſſere Ver- faſſung und Regierung gründen, und dieſe wiederum die Aufklärung der Einzelnen vermehren. Käme es nun endlich dahin, daß eine ſolche vernunftgemäße höhere Erziehung uns von den Chimären unklarer Zeiten gänzlich befreite, Religionszwang unter die Abſurditäten verwieſe, Liebe und Tugend aber, als eine zur glücklichen Exiſtenz der menſchlichen Geſell- ſchaft innern und äußern Nothwendigkeit, klar er- kennen ließe, zugleich aber durch weiſe und feſte po- litiſche Inſtitutionen, aus dieſer Ueberzeugung ent- ſproßen, auch zur fortwährenden Beibehaltung der-
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><pbfacs="#f0240"n="218"/><p>So ſchön und herrlich die Worte Moral und Tu-<lb/>
gend lauten, praktiſch heilſam für das irdiſche Wohl<lb/>
der menſchlichen <hirendition="#g">Geſellſchaft</hi> wird doch nur die<lb/>
allgemeine klare Erkenntniß derſelben als das <hirendition="#g">Nütz-<lb/>
liche</hi>ſeyn. Wer wirklich einſieht, daß der Sündi-<lb/>
gende dem Wilden gleicht, welcher den ganzen Baum<lb/>
umhaut, um zu einer einzigen, oft ſauren, Frucht<lb/>
zu gelangen, der Tugendhafte aber, wie der verſtän-<lb/>
dige Gärtner handelt, der, die Reife abwartend, die<lb/>ſüßen Früchte alle pflückt, mit dem frohen Bewußt-<lb/>ſeyn, daß er deshalb den Baum an keiner folgenden<lb/>
Erndte verhindert habe —<hirendition="#g">deſſen</hi> Tugend wird<lb/>
wahrſcheinlich die ſicherſte bleiben. Je erleuchteter<lb/>
alſo die Menſchen im Allgemeinen über das find,<lb/>
was ihnen <hirendition="#g">frommt</hi>, deſto <hirendition="#g">frommer</hi>, d. h. beſſer<lb/>
und milder müſſen auch ihre Sitten, unter und ge-<lb/>
geneinander ſelbſt, werden. Dann wird auch bald<lb/>
die Wechſelwirkung im wohlthätigen Zirkel gehen —<lb/>
nämlich aufgeklärtere Individuen eine beſſere Ver-<lb/>
faſſung und Regierung gründen, und dieſe wiederum<lb/>
die Aufklärung der Einzelnen vermehren. Käme es<lb/>
nun endlich dahin, daß eine ſolche vernunftgemäße<lb/>
höhere Erziehung uns von den Chimären unklarer<lb/>
Zeiten <choice><sic>gȧnzlich</sic><corr>gänzlich</corr></choice> befreite, Religionszwang unter die<lb/>
Abſurditäten verwieſe, Liebe und Tugend aber, als<lb/>
eine zur glücklichen Exiſtenz der menſchlichen Geſell-<lb/>ſchaft innern und <choice><sic>ȧußern</sic><corr>äußern</corr></choice> Nothwendigkeit, klar er-<lb/>
kennen ließe, zugleich aber durch weiſe und feſte po-<lb/>
litiſche Inſtitutionen, aus dieſer Ueberzeugung ent-<lb/>ſproßen, auch zur fortwährenden Beibehaltung der-<lb/></p></div></div></body></text></TEI>
[218/0240]
So ſchön und herrlich die Worte Moral und Tu-
gend lauten, praktiſch heilſam für das irdiſche Wohl
der menſchlichen Geſellſchaft wird doch nur die
allgemeine klare Erkenntniß derſelben als das Nütz-
liche ſeyn. Wer wirklich einſieht, daß der Sündi-
gende dem Wilden gleicht, welcher den ganzen Baum
umhaut, um zu einer einzigen, oft ſauren, Frucht
zu gelangen, der Tugendhafte aber, wie der verſtän-
dige Gärtner handelt, der, die Reife abwartend, die
ſüßen Früchte alle pflückt, mit dem frohen Bewußt-
ſeyn, daß er deshalb den Baum an keiner folgenden
Erndte verhindert habe — deſſen Tugend wird
wahrſcheinlich die ſicherſte bleiben. Je erleuchteter
alſo die Menſchen im Allgemeinen über das find,
was ihnen frommt, deſto frommer, d. h. beſſer
und milder müſſen auch ihre Sitten, unter und ge-
geneinander ſelbſt, werden. Dann wird auch bald
die Wechſelwirkung im wohlthätigen Zirkel gehen —
nämlich aufgeklärtere Individuen eine beſſere Ver-
faſſung und Regierung gründen, und dieſe wiederum
die Aufklärung der Einzelnen vermehren. Käme es
nun endlich dahin, daß eine ſolche vernunftgemäße
höhere Erziehung uns von den Chimären unklarer
Zeiten gänzlich befreite, Religionszwang unter die
Abſurditäten verwieſe, Liebe und Tugend aber, als
eine zur glücklichen Exiſtenz der menſchlichen Geſell-
ſchaft innern und äußern Nothwendigkeit, klar er-
kennen ließe, zugleich aber durch weiſe und feſte po-
litiſche Inſtitutionen, aus dieſer Ueberzeugung ent-
ſproßen, auch zur fortwährenden Beibehaltung der-
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Pückler-Muskau, Hermann von: Briefe eines Verstorbenen. Bd. 2. München, 1830, S. 218. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/pueckler_briefe02_1830/240>, abgerufen am 22.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.