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Pückler-Muskau, Hermann von: Briefe eines Verstorbenen. Bd. 2. München, 1830.

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außer uns, und die unsres eigenen Wesens durch er-
gründete Thatsachen verstehen lehrt, je milder, je
moralischer werden unsre Sitten, wie unsere Regie-
rungen. Langsamer folgen die Religionen!
Selbst die christliche, obgleich in ihrem Ursprung einer
der mächtigsten Schritte, den tiefes Denken und gründ-
liche Erkenntniß des reinsten Herzens gethan, hat
doch seitdem, wie uns die Geschichte ihrer Kirche fast
auf jeder Seite zeigt, hundertmal die Welt mit Blut
getränkt und den wahnwitzigsten Unsinn fortwährend
geboren und auch wieder begraben, während Philo-
sophie und Wissenschaft stets, gleich mildernd, fort-
wirkten, ohne je ähnliche Opfer zu verlangen, noch
ähnliche Verstöße zu begehen. Es ist die Frage, ob
Newton, als er das Geheimniß der Himmel auf-
deckte, der Erfinder des Compasses und der Buch-
druckerkunst, der Menschheit nicht mehr genutzt haben,
das heißt, ihre Civilisation mehr befördert, als soviel
Stifter von Religionen, die verlangen, daß man zu
ihrer Fahne ausschließlich schwöre. Ja es könnte
wohl einmal eine Zeit kommen, wo Religion und
Poesie als Schwestern betrachtet würden, und man
es eben so lächerlich fände -- eine Staatsreligion als
eine Staatspoesie zu haben? Wäre ich ein Türke, so
würde ich mir sagen: Es ist gewiß unendlich schwer,
die Vorurtheile der Kindheit und den Aberglauben
früherer Lehre so gänzlich los zu werden, um auch
die Ueberzeugung von Millionen mit fester Seele als
thöricht anzuerkennen. Demohngeachtet will ich, da
ich es eingesehen, kein Türke bleiven. Als Christ

Briefe eines Verstorbenen. II. 13

außer uns, und die unſres eigenen Weſens durch er-
gründete Thatſachen verſtehen lehrt, je milder, je
moraliſcher werden unſre Sitten, wie unſere Regie-
rungen. Langſamer folgen die Religionen!
Selbſt die chriſtliche, obgleich in ihrem Urſprung einer
der mächtigſten Schritte, den tiefes Denken und gründ-
liche Erkenntniß des reinſten Herzens gethan, hat
doch ſeitdem, wie uns die Geſchichte ihrer Kirche faſt
auf jeder Seite zeigt, hundertmal die Welt mit Blut
getränkt und den wahnwitzigſten Unſinn fortwährend
geboren und auch wieder begraben, während Philo-
ſophie und Wiſſenſchaft ſtets, gleich mildernd, fort-
wirkten, ohne je ähnliche Opfer zu verlangen, noch
ähnliche Verſtöße zu begehen. Es iſt die Frage, ob
Newton, als er das Geheimniß der Himmel auf-
deckte, der Erfinder des Compaſſes und der Buch-
druckerkunſt, der Menſchheit nicht mehr genutzt haben,
das heißt, ihre Civiliſation mehr befördert, als ſoviel
Stifter von Religionen, die verlangen, daß man zu
ihrer Fahne ausſchließlich ſchwöre. Ja es könnte
wohl einmal eine Zeit kommen, wo Religion und
Poeſie als Schweſtern betrachtet würden, und man
es eben ſo lächerlich fände — eine Staatsreligion als
eine Staatspoeſie zu haben? Wäre ich ein Türke, ſo
würde ich mir ſagen: Es iſt gewiß unendlich ſchwer,
die Vorurtheile der Kindheit und den Aberglauben
früherer Lehre ſo gänzlich los zu werden, um auch
die Ueberzeugung von Millionen mit feſter Seele als
thöricht anzuerkennen. Demohngeachtet will ich, da
ich es eingeſehen, kein Türke bleiven. Als Chriſt

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[193/0215] außer uns, und die unſres eigenen Weſens durch er- gründete Thatſachen verſtehen lehrt, je milder, je moraliſcher werden unſre Sitten, wie unſere Regie- rungen. Langſamer folgen die Religionen! Selbſt die chriſtliche, obgleich in ihrem Urſprung einer der mächtigſten Schritte, den tiefes Denken und gründ- liche Erkenntniß des reinſten Herzens gethan, hat doch ſeitdem, wie uns die Geſchichte ihrer Kirche faſt auf jeder Seite zeigt, hundertmal die Welt mit Blut getränkt und den wahnwitzigſten Unſinn fortwährend geboren und auch wieder begraben, während Philo- ſophie und Wiſſenſchaft ſtets, gleich mildernd, fort- wirkten, ohne je ähnliche Opfer zu verlangen, noch ähnliche Verſtöße zu begehen. Es iſt die Frage, ob Newton, als er das Geheimniß der Himmel auf- deckte, der Erfinder des Compaſſes und der Buch- druckerkunſt, der Menſchheit nicht mehr genutzt haben, das heißt, ihre Civiliſation mehr befördert, als ſoviel Stifter von Religionen, die verlangen, daß man zu ihrer Fahne ausſchließlich ſchwöre. Ja es könnte wohl einmal eine Zeit kommen, wo Religion und Poeſie als Schweſtern betrachtet würden, und man es eben ſo lächerlich fände — eine Staatsreligion als eine Staatspoeſie zu haben? Wäre ich ein Türke, ſo würde ich mir ſagen: Es iſt gewiß unendlich ſchwer, die Vorurtheile der Kindheit und den Aberglauben früherer Lehre ſo gänzlich los zu werden, um auch die Ueberzeugung von Millionen mit feſter Seele als thöricht anzuerkennen. Demohngeachtet will ich, da ich es eingeſehen, kein Türke bleiven. Als Chriſt Briefe eines Verſtorbenen. II. 13

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Zitationshilfe: Pückler-Muskau, Hermann von: Briefe eines Verstorbenen. Bd. 2. München, 1830, S. 193. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/pueckler_briefe02_1830/215>, abgerufen am 25.11.2024.