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Pückler-Muskau, Hermann von: Briefe eines Verstorbenen. Bd. 1. München, 1830.

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besuchen, an welche ich einen Brief mitgebracht
und die mir schon früher eine artige Einladung ge-
sendet, die ich jedoch nicht annehmen konnte. Ich
war sehr begierig auf diese Bekanntschaft, da ich sie
als Schriftstellerin sehr hoch stelle, fand sie jedoch
ganz anders, als ich sie mir gedacht. Es ist eine
kleine frivole, aufgeweckte Frau, die ohngefähr zwi-
schen 30 und 40 Jahr alt zu seyn scheint, nicht hübsch,
nicht häßlich, jedoch nicht ohne Prätension für das
erste und mit wirklich schönen, ausdrucksvollen Au-
gen. Sie weiß nichts von fausse honte und Verle-
genheit, ihre Manieren sind aber nicht die feinsten,
und affectiren eine aisance und Leichtigkeit der
großen Welt, der doch die Ruhe und Natürlichkeit
fehlt. Sie hat die ächt englische Schwäche: mit vor-
nehmen Bekanntschaften zu prahlen und für sehr
recherchirt gelten zu wollen -- in zu hohem Grade
für eine Frau von so ausgezeichnetem Geist, und
wird durchaus nicht gewahr, wie sehr sie sich da-
durch selbst unterschätzt. Uebrigens ist sie nicht schwer
kennen zu lernen, da sie sich, mit mehr Lebhaftig-
keit als gutem Geschmack, von Anfang an ganz of-
fen hingiebt, und namentlich ihre Liberalität wie
ihren Unglauben, letzterer etwas von der veralteten
Schule des Helvetius und Condillac, bei jeder Ge-
legenheit auskramt. In ihren Schriften ist sie weit
behutsamer und würdiger als in ihrer Unterhaltung,
die Satyre der letzteren ist aber eben so beißend und
gewandt als ihre Feder, und auch eben so wenig
gewissenhaft, was die strenge Wahrheit betrifft. Du

beſuchen, an welche ich einen Brief mitgebracht
und die mir ſchon früher eine artige Einladung ge-
ſendet, die ich jedoch nicht annehmen konnte. Ich
war ſehr begierig auf dieſe Bekanntſchaft, da ich ſie
als Schriftſtellerin ſehr hoch ſtelle, fand ſie jedoch
ganz anders, als ich ſie mir gedacht. Es iſt eine
kleine frivole, aufgeweckte Frau, die ohngefähr zwi-
ſchen 30 und 40 Jahr alt zu ſeyn ſcheint, nicht hübſch,
nicht häßlich, jedoch nicht ohne Prätenſion für das
erſte und mit wirklich ſchönen, ausdrucksvollen Au-
gen. Sie weiß nichts von fausse honte und Verle-
genheit, ihre Manieren ſind aber nicht die feinſten,
und affectiren eine aisance und Leichtigkeit der
großen Welt, der doch die Ruhe und Natürlichkeit
fehlt. Sie hat die ächt engliſche Schwäche: mit vor-
nehmen Bekanntſchaften zu prahlen und für ſehr
recherchirt gelten zu wollen — in zu hohem Grade
für eine Frau von ſo ausgezeichnetem Geiſt, und
wird durchaus nicht gewahr, wie ſehr ſie ſich da-
durch ſelbſt unterſchätzt. Uebrigens iſt ſie nicht ſchwer
kennen zu lernen, da ſie ſich, mit mehr Lebhaftig-
keit als gutem Geſchmack, von Anfang an ganz of-
fen hingiebt, und namentlich ihre Liberalität wie
ihren Unglauben, letzterer etwas von der veralteten
Schule des Helvetius und Condillac, bei jeder Ge-
legenheit auskramt. In ihren Schriften iſt ſie weit
behutſamer und würdiger als in ihrer Unterhaltung,
die Satyre der letzteren iſt aber eben ſo beißend und
gewandt als ihre Feder, und auch eben ſo wenig
gewiſſenhaft, was die ſtrenge Wahrheit betrifft. Du

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[172/0196] beſuchen, an welche ich einen Brief mitgebracht und die mir ſchon früher eine artige Einladung ge- ſendet, die ich jedoch nicht annehmen konnte. Ich war ſehr begierig auf dieſe Bekanntſchaft, da ich ſie als Schriftſtellerin ſehr hoch ſtelle, fand ſie jedoch ganz anders, als ich ſie mir gedacht. Es iſt eine kleine frivole, aufgeweckte Frau, die ohngefähr zwi- ſchen 30 und 40 Jahr alt zu ſeyn ſcheint, nicht hübſch, nicht häßlich, jedoch nicht ohne Prätenſion für das erſte und mit wirklich ſchönen, ausdrucksvollen Au- gen. Sie weiß nichts von fausse honte und Verle- genheit, ihre Manieren ſind aber nicht die feinſten, und affectiren eine aisance und Leichtigkeit der großen Welt, der doch die Ruhe und Natürlichkeit fehlt. Sie hat die ächt engliſche Schwäche: mit vor- nehmen Bekanntſchaften zu prahlen und für ſehr recherchirt gelten zu wollen — in zu hohem Grade für eine Frau von ſo ausgezeichnetem Geiſt, und wird durchaus nicht gewahr, wie ſehr ſie ſich da- durch ſelbſt unterſchätzt. Uebrigens iſt ſie nicht ſchwer kennen zu lernen, da ſie ſich, mit mehr Lebhaftig- keit als gutem Geſchmack, von Anfang an ganz of- fen hingiebt, und namentlich ihre Liberalität wie ihren Unglauben, letzterer etwas von der veralteten Schule des Helvetius und Condillac, bei jeder Ge- legenheit auskramt. In ihren Schriften iſt ſie weit behutſamer und würdiger als in ihrer Unterhaltung, die Satyre der letzteren iſt aber eben ſo beißend und gewandt als ihre Feder, und auch eben ſo wenig gewiſſenhaft, was die ſtrenge Wahrheit betrifft. Du

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Zitationshilfe: Pückler-Muskau, Hermann von: Briefe eines Verstorbenen. Bd. 1. München, 1830, S. 172. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/pueckler_briefe01_1830/196>, abgerufen am 24.11.2024.