Als man einen Weltweisen fragte, von wem er die Weisheit gelernt habe, antwortete er: Ich habe sie von den Blinden ge- lernt, die niemals einen Schritt thun, ohne vorher den Boden mit einem Stocke zu untersuchen.
Wenn man euch sagt, daß ein Berg von einem Orte zu dem andern versetzt worden sey; so glaubt es, wenn ihr wollt; sagt man euch aber, daß ein Mensch sein Naturell verändert habe, glaubt es nicht. Des Menschen Natu- rell gleicht seiner Gesichtsbildung: sowohl das eine als die andere sind fast immer einerley.
Zehn Derwische werden ruhig auf einer Streue schlafen, und zwey Könige können nicht mit einander in einem Vierthel von der Welt in Frieden leben.
Uebelerworbenes Gut, verzehrt das Gut- erworbene. Was man zu viel hat, muß von der Masse, als ein überflüßiges Gut an- gesehen werden. Allmosen sind das Salz des Reichthums: ohne dieses Erhaltungs- mittel verdirbt es.
Du bist ein Mensch, und solltest nicht ge- duldig seyn?
Drey Sachen lernt man nur bey drey Ge- legenheiten erkennen: die Tapferkeit im Strei- te, die Klugheit im Zorn, und die Freundschaft in der Noth.
Das Meer bietet unsägliche Reichthümer dar, die Sicherheit aber ist auf dem Ufer.
Es
Als man einen Weltweiſen fragte, von wem er die Weisheit gelernt habe, antwortete er: Ich habe ſie von den Blinden ge- lernt, die niemals einen Schritt thun, ohne vorher den Boden mit einem Stocke zu unterſuchen.
Wenn man euch ſagt, daß ein Berg von einem Orte zu dem andern verſetzt worden ſey; ſo glaubt es, wenn ihr wollt; ſagt man euch aber, daß ein Menſch ſein Naturell veraͤndert habe, glaubt es nicht. Des Menſchen Natu- rell gleicht ſeiner Geſichtsbildung: ſowohl das eine als die andere ſind faſt immer einerley.
Zehn Derwiſche werden ruhig auf einer Streue ſchlafen, und zwey Koͤnige koͤnnen nicht mit einander in einem Vierthel von der Welt in Frieden leben.
Uebelerworbenes Gut, verzehrt das Gut- erworbene. Was man zu viel hat, muß von der Maſſe, als ein uͤberfluͤßiges Gut an- geſehen werden. Allmoſen ſind das Salz des Reichthums: ohne dieſes Erhaltungs- mittel verdirbt es.
Du biſt ein Menſch, und ſollteſt nicht ge- duldig ſeyn?
Drey Sachen lernt man nur bey drey Ge- legenheiten erkennen: die Tapferkeit im Strei- te, die Klugheit im Zorn, und die Freundſchaft in der Noth.
Das Meer bietet unſaͤgliche Reichthuͤmer dar, die Sicherheit aber iſt auf dem Ufer.
Es
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Als man einen Weltweiſen fragte, von
wem er die Weisheit gelernt habe, antwortete
er: Ich habe ſie von den Blinden ge-
lernt, die niemals einen Schritt thun,
ohne vorher den Boden mit einem Stocke
zu unterſuchen.
Wenn man euch ſagt, daß ein Berg von
einem Orte zu dem andern verſetzt worden ſey;
ſo glaubt es, wenn ihr wollt; ſagt man euch
aber, daß ein Menſch ſein Naturell veraͤndert
habe, glaubt es nicht. Des Menſchen Natu-
rell gleicht ſeiner Geſichtsbildung: ſowohl das
eine als die andere ſind faſt immer einerley.
Zehn Derwiſche werden ruhig auf einer
Streue ſchlafen, und zwey Koͤnige koͤnnen nicht
mit einander in einem Vierthel von der Welt
in Frieden leben.
Uebelerworbenes Gut, verzehrt das Gut-
erworbene. Was man zu viel hat, muß
von der Maſſe, als ein uͤberfluͤßiges Gut an-
geſehen werden. Allmoſen ſind das Salz
des Reichthums: ohne dieſes Erhaltungs-
mittel verdirbt es.
Du biſt ein Menſch, und ſollteſt nicht ge-
duldig ſeyn?
Drey Sachen lernt man nur bey drey Ge-
legenheiten erkennen: die Tapferkeit im Strei-
te, die Klugheit im Zorn, und die Freundſchaft
in der Noth.
Das Meer bietet unſaͤgliche Reichthuͤmer
dar, die Sicherheit aber iſt auf dem Ufer.
Es
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[Poppe, Johann Friedrich]: Characteristik der merkwürdigsten Asiatischen Nationen. Bd. 1. Breslau, 1776, S. 94. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/poppe_charakteristik01_1776/114>, abgerufen am 16.02.2025.
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