Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Pölitz, Karl Heinrich Ludwig: Das Gesamtgebiet der teutschen Sprache nach Prosa, Dichtkunst und Beredsamkeit theoretisch und praktisch dargestellt. Dritter Band: Sprache der Dichtkunst. Leipzig, 1825.

Bild:
<< vorherige Seite

ppo_445.001
Fülle, Leben und Wärme, und nie versieget deine Kraft! ppo_445.002
Wie groß muß der seyn, der dich gebildet hat!

ppo_445.003

So sprach der blinde Mann. Seine Rede vernahm ppo_445.004
ein Anderer, der neben ihm stand. Und es befremdeten ppo_445.005
ihn die Worte des Blinden. Deshalb begann er und ppo_445.006
fragte: Wie kannst du das Gestirn des Tages bewundern, ppo_445.007
und siehest es nicht?

ppo_445.008

Da antwortete der Blinde und sprach: Eben darum, ppo_445.009
mein Freund. Seit das Licht meiner Augen verdunkelt ppo_445.010
und der Glanz der Sonne mir verschlossen ward, nahm ppo_445.011
ich sie in meine Seele auf! Jedes Gefühl ihrer Nähe ppo_445.012
lässet sie in mir selbst aufgehen, und ihren Glanz in ppo_445.013
meinem Jnnern leuchten. Jhr aber schauet sie nur, wie ppo_445.014
alles, was ihr täglich sehet, mit leiblichem Auge!

ppo_445.015

2) von Hamann.

ppo_445.016

Frage und Antwort.

ppo_445.017
"Wie kömmt's doch, daß von allen Blumen, die ppo_445.018
Auf Feld und Anger blühn, so wenig nur ppo_445.019
Den Wohlgeruch, den süßen Duft uns weihn, ppo_445.020
Der dieses Veilchen hier so werth uns macht? ppo_445.021
Sie trinken alle doch denselben Thau, ppo_445.022
Denselben Stral der Sonne und des Monds; ppo_445.023
Sie sprossen alle ja aus Einem Schoos, ppo_445.024
Und Eine Mutter ist es, die sie nährt!" -- ppo_445.025
So sprach der Jüngling zu dem weisen Mann. ppo_445.026
"Wie kommt's, mein Sohn, erwiedert der, daß von ppo_445.027
Den Menschen nicht ein Jeder Wohlgeruch ppo_445.028
Zum Himmel schickt durch edle, gute That? ppo_445.029
Hat die Natur doch Keinen je versäumt! ppo_445.030
Es leuchtet Jedem ja die Sonne mild, ppo_445.031
Und milder noch der Mond. Für Jeden schmückt ppo_445.032
Die Erde sich mit goldner Frucht. Es wölbt

ppo_445.001
Fülle, Leben und Wärme, und nie versieget deine Kraft! ppo_445.002
Wie groß muß der seyn, der dich gebildet hat!

ppo_445.003

So sprach der blinde Mann. Seine Rede vernahm ppo_445.004
ein Anderer, der neben ihm stand. Und es befremdeten ppo_445.005
ihn die Worte des Blinden. Deshalb begann er und ppo_445.006
fragte: Wie kannst du das Gestirn des Tages bewundern, ppo_445.007
und siehest es nicht?

ppo_445.008

Da antwortete der Blinde und sprach: Eben darum, ppo_445.009
mein Freund. Seit das Licht meiner Augen verdunkelt ppo_445.010
und der Glanz der Sonne mir verschlossen ward, nahm ppo_445.011
ich sie in meine Seele auf! Jedes Gefühl ihrer Nähe ppo_445.012
lässet sie in mir selbst aufgehen, und ihren Glanz in ppo_445.013
meinem Jnnern leuchten. Jhr aber schauet sie nur, wie ppo_445.014
alles, was ihr täglich sehet, mit leiblichem Auge!

ppo_445.015

2) von Hamann.

ppo_445.016

Frage und Antwort.

ppo_445.017
„Wie kömmt's doch, daß von allen Blumen, die ppo_445.018
Auf Feld und Anger blühn, so wenig nur ppo_445.019
Den Wohlgeruch, den süßen Duft uns weihn, ppo_445.020
Der dieses Veilchen hier so werth uns macht? ppo_445.021
Sie trinken alle doch denselben Thau, ppo_445.022
Denselben Stral der Sonne und des Monds; ppo_445.023
Sie sprossen alle ja aus Einem Schoos, ppo_445.024
Und Eine Mutter ist es, die sie nährt!“ — ppo_445.025
So sprach der Jüngling zu dem weisen Mann. ppo_445.026
„Wie kommt's, mein Sohn, erwiedert der, daß von ppo_445.027
Den Menschen nicht ein Jeder Wohlgeruch ppo_445.028
Zum Himmel schickt durch edle, gute That? ppo_445.029
Hat die Natur doch Keinen je versäumt! ppo_445.030
Es leuchtet Jedem ja die Sonne mild, ppo_445.031
Und milder noch der Mond. Für Jeden schmückt ppo_445.032
Die Erde sich mit goldner Frucht. Es wölbt
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p> <hi rendition="#et"><pb facs="#f0457" n="445"/><lb n="ppo_445.001"/>Fülle, Leben und Wärme, und nie versieget deine Kraft! <lb n="ppo_445.002"/>Wie groß muß der seyn, der dich gebildet hat!</hi> </p>
          <lb n="ppo_445.003"/>
          <p> <hi rendition="#et">  So sprach der blinde Mann. Seine Rede vernahm <lb n="ppo_445.004"/>ein Anderer, der neben ihm stand. Und es befremdeten <lb n="ppo_445.005"/>ihn die Worte des Blinden. Deshalb begann er und <lb n="ppo_445.006"/>fragte: Wie kannst du das Gestirn des Tages bewundern, <lb n="ppo_445.007"/>und siehest es nicht?</hi> </p>
          <lb n="ppo_445.008"/>
          <p> <hi rendition="#et">  Da antwortete der Blinde und sprach: Eben darum, <lb n="ppo_445.009"/>mein Freund. Seit das Licht meiner Augen verdunkelt <lb n="ppo_445.010"/>und der Glanz der Sonne mir verschlossen ward, nahm <lb n="ppo_445.011"/>ich sie in meine Seele auf! Jedes Gefühl ihrer Nähe <lb n="ppo_445.012"/>lässet sie in mir selbst aufgehen, und ihren Glanz in <lb n="ppo_445.013"/>meinem Jnnern leuchten. Jhr aber schauet sie nur, wie <lb n="ppo_445.014"/>alles, was ihr täglich sehet, mit leiblichem Auge!</hi> </p>
          <lb n="ppo_445.015"/>
          <p> <hi rendition="#et">  2) von <hi rendition="#g">Hamann.</hi></hi> </p>
          <lb n="ppo_445.016"/>
          <p> <hi rendition="#c"> <hi rendition="#g">Frage und Antwort.</hi> </hi> </p>
          <lb n="ppo_445.017"/>
          <lg>
            <l>  &#x201E;Wie kömmt's doch, daß von allen Blumen, die</l>
            <lb n="ppo_445.018"/>
            <l>Auf Feld und Anger blühn, so wenig nur</l>
            <lb n="ppo_445.019"/>
            <l>Den Wohlgeruch, den süßen Duft uns weihn,</l>
            <lb n="ppo_445.020"/>
            <l>Der dieses Veilchen hier so werth uns macht?</l>
            <lb n="ppo_445.021"/>
            <l>Sie trinken alle doch denselben Thau,</l>
            <lb n="ppo_445.022"/>
            <l>Denselben Stral der Sonne und des Monds;</l>
            <lb n="ppo_445.023"/>
            <l>Sie sprossen alle ja aus Einem Schoos,</l>
            <lb n="ppo_445.024"/>
            <l>Und Eine Mutter ist es, die sie nährt!&#x201C; &#x2014;</l>
            <lb n="ppo_445.025"/>
            <l>So sprach der Jüngling zu dem weisen Mann.</l>
            <lb n="ppo_445.026"/>
            <l>&#x201E;Wie kommt's, mein Sohn, erwiedert der, daß von</l>
            <lb n="ppo_445.027"/>
            <l>Den Menschen nicht ein Jeder Wohlgeruch</l>
            <lb n="ppo_445.028"/>
            <l>Zum Himmel schickt durch edle, gute That?</l>
            <lb n="ppo_445.029"/>
            <l>Hat die Natur doch Keinen je versäumt!</l>
            <lb n="ppo_445.030"/>
            <l>Es leuchtet Jedem ja die Sonne mild,</l>
            <lb n="ppo_445.031"/>
            <l>Und milder noch der Mond. Für Jeden schmückt</l>
            <lb n="ppo_445.032"/>
            <l>Die Erde sich mit goldner Frucht. Es wölbt</l>
          </lg>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[445/0457] ppo_445.001 Fülle, Leben und Wärme, und nie versieget deine Kraft! ppo_445.002 Wie groß muß der seyn, der dich gebildet hat! ppo_445.003 So sprach der blinde Mann. Seine Rede vernahm ppo_445.004 ein Anderer, der neben ihm stand. Und es befremdeten ppo_445.005 ihn die Worte des Blinden. Deshalb begann er und ppo_445.006 fragte: Wie kannst du das Gestirn des Tages bewundern, ppo_445.007 und siehest es nicht? ppo_445.008 Da antwortete der Blinde und sprach: Eben darum, ppo_445.009 mein Freund. Seit das Licht meiner Augen verdunkelt ppo_445.010 und der Glanz der Sonne mir verschlossen ward, nahm ppo_445.011 ich sie in meine Seele auf! Jedes Gefühl ihrer Nähe ppo_445.012 lässet sie in mir selbst aufgehen, und ihren Glanz in ppo_445.013 meinem Jnnern leuchten. Jhr aber schauet sie nur, wie ppo_445.014 alles, was ihr täglich sehet, mit leiblichem Auge! ppo_445.015 2) von Hamann. ppo_445.016 Frage und Antwort. ppo_445.017 „Wie kömmt's doch, daß von allen Blumen, die ppo_445.018 Auf Feld und Anger blühn, so wenig nur ppo_445.019 Den Wohlgeruch, den süßen Duft uns weihn, ppo_445.020 Der dieses Veilchen hier so werth uns macht? ppo_445.021 Sie trinken alle doch denselben Thau, ppo_445.022 Denselben Stral der Sonne und des Monds; ppo_445.023 Sie sprossen alle ja aus Einem Schoos, ppo_445.024 Und Eine Mutter ist es, die sie nährt!“ — ppo_445.025 So sprach der Jüngling zu dem weisen Mann. ppo_445.026 „Wie kommt's, mein Sohn, erwiedert der, daß von ppo_445.027 Den Menschen nicht ein Jeder Wohlgeruch ppo_445.028 Zum Himmel schickt durch edle, gute That? ppo_445.029 Hat die Natur doch Keinen je versäumt! ppo_445.030 Es leuchtet Jedem ja die Sonne mild, ppo_445.031 Und milder noch der Mond. Für Jeden schmückt ppo_445.032 Die Erde sich mit goldner Frucht. Es wölbt

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Technische Universität Darmstadt, Universität Stuttgart: Bereitstellung der Scan-Digitalisate und der Texttranskription. (2015-09-30T09:54:39Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
TextGrid/DARIAH-DE: Langfristige Bereitstellung der TextGrid/DARIAH-DE-Repository-Ausgabe
Stefan Alscher: Bearbeitung der digitalen Edition - Annotation des Metaphernbegriffs
Hans-Werner Bartz: Bearbeitung der digitalen Edition - Tustep-Unterstützung
Michael Bender: Bearbeitung der digitalen Edition - Koordination, Konzeption (Korpusaufbau, Annotationsschema, Workflow, Publikationsformen), Annotation des Metaphernbegriffs, XML-Auszeichnung)
Leonie Blumenschein: Bearbeitung der digitalen Edition - XML-Auszeichnung
David Glück: Bearbeitung der digitalen Edition - Korpusaufbau, XML-Auszeichnung, Annotation des Metaphernbegriffs, XSL+JavaScript
Constanze Hahn: Bearbeitung der digitalen Edition - Korpusaufbau, XML-Auszeichnung
Philipp Hegel: Bearbeitung der digitalen Edition - XML/XSL/CSS-Unterstützung
Andrea Rapp: ePoetics-Projekt-Koordination
Sandra Richter: ePoetics-Projekt-Koordination

Weitere Informationen:

Bogensignaturen: keine Angabe; Druckfehler: keine Angabe; fremdsprachliches Material: gekennzeichnet; Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage; Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): wie Vorlage; i/j in Fraktur: wie Vorlage; I/J in Fraktur: wie Vorlage; Kolumnentitel: nicht übernommen; Kustoden: nicht übernommen; langes s (ſ): wie Vorlage; Normalisierungen: keine; rundes r (ꝛ): wie Vorlage; Seitenumbrüche markiert: ja; Silbentrennung: nicht übernommen; u/v bzw. U/V: wie Vorlage; Vokale mit übergest. e: wie Vorlage; Vollständigkeit: vollständig erfasst; Zeichensetzung: wie Vorlage; Zeilenumbrüche markiert: ja;




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/poelitz_poetik_1825
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/poelitz_poetik_1825/457
Zitationshilfe: Pölitz, Karl Heinrich Ludwig: Das Gesamtgebiet der teutschen Sprache nach Prosa, Dichtkunst und Beredsamkeit theoretisch und praktisch dargestellt. Dritter Band: Sprache der Dichtkunst. Leipzig, 1825, S. 445. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/poelitz_poetik_1825/457>, abgerufen am 22.11.2024.