Platen, August von: Der romantische Oedipus. Stuttgart u. a., 1829.Ihr Millionen oder Milliarden, Die ihr g[en]ippt aus Hippokrene's Lache, Versorg[end] jährlich mit so viel Bastarden Die Findelhäuser aller Almanache: Ich bin die Sphinx, die Zöllnerin der Barden, Indem ich zinsbar eure Verse mache; Zwar Verse dünken euch bequeme Zölle, Doch sind sie schlecht, so schick' ich euch zur Hölle! (Eine Menge Dichter, worunter auch Kind und Kindeskind, gehn vorüber. Jeder hält eine Schreibtafel in der Hand, worauf ein Distichon geschrieben steht. Die Sphinx liest die Disticha, und wirft die Verfasser nach allen Seiten in den Abgrund. Zuletzt erscheint Oedipus.) Oedipus. Bist du das Ungethüm, von dem sie sagen, Du littest keine Verse, welche hinken, Und ließest Alle, die dergleichen wagen, Den bittern Tod in diesem Schlunde trinken, Und stündest ab, das arme Land zu plagen, Wenn unter allen diesen lauten Finken Nur Eine Nachtigall zu finden wäre, Die ohne Fehl ein Distichon gebäre? Die Sphinx. Daß Jeder das, was er betreibt, verstehe, Wag' ich zu fodern und aus guten Gründen: Zwar scheint ein schlechter Vers ein kleines Wehe, Und doch erzeugt er eine Menge Sünden; Denn allzuleicht nur wird in wilder Ehe Sich eine schlechte That mit ihm verbünden: Wer durch sich selbst kann keinen Kranz erreichen, Der muß denselben ränkevoll erschleichen. Ihr Millionen oder Milliarden, Die ihr g[en]ippt aus Hippokrene's Lache, Verſorg[end] jaͤhrlich mit ſo viel Baſtarden Die Findelhaͤuſer aller Almanache: Ich bin die Sphinx, die Zoͤllnerin der Barden, Indem ich zinsbar eure Verſe mache; Zwar Verſe duͤnken euch bequeme Zoͤlle, Doch ſind ſie ſchlecht, ſo ſchick' ich euch zur Hoͤlle! (Eine Menge Dichter, worunter auch Kind und Kindeskind, gehn voruͤber. Jeder haͤlt eine Schreibtafel in der Hand, worauf ein Diſtichon geſchrieben ſteht. Die Sphinx liest die Diſticha, und wirft die Verfaſſer nach allen Seiten in den Abgrund. Zuletzt erſcheint Oedipus.) Oedipus. Biſt du das Ungethuͤm, von dem ſie ſagen, Du litteſt keine Verſe, welche hinken, Und ließeſt Alle, die dergleichen wagen, Den bittern Tod in dieſem Schlunde trinken, Und ſtuͤndeſt ab, das arme Land zu plagen, Wenn unter allen dieſen lauten Finken Nur Eine Nachtigall zu finden waͤre, Die ohne Fehl ein Diſtichon gebaͤre? Die Sphinx. Daß Jeder das, was er betreibt, verſtehe, Wag' ich zu fodern und aus guten Gruͤnden: Zwar ſcheint ein ſchlechter Vers ein kleines Wehe, Und doch erzeugt er eine Menge Suͤnden; Denn allzuleicht nur wird in wilder Ehe Sich eine ſchlechte That mit ihm verbuͤnden: Wer durch ſich ſelbſt kann keinen Kranz erreichen, Der muß denſelben raͤnkevoll erſchleichen. <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <sp who="#SPH"> <pb facs="#f0060" n="54"/> <p>Ihr Millionen oder Milliarden,<lb/> Die ihr g<supplied reason="damage">en</supplied>ippt aus Hippokrene's Lache,<lb/> Verſorg<supplied reason="damage">end</supplied> jaͤhrlich mit ſo viel Baſtarden<lb/> Die Findelhaͤuſer aller Almanache:<lb/> Ich bin die Sphinx, die Zoͤllnerin der Barden,<lb/> Indem ich zinsbar eure Verſe mache;<lb/> Zwar Verſe duͤnken euch bequeme Zoͤlle,<lb/> Doch ſind ſie ſchlecht, ſo ſchick' ich euch zur Hoͤlle!</p><lb/> <stage>(Eine Menge Dichter, worunter auch <hi rendition="#g">Kind</hi> und <hi rendition="#g">Kindeskind</hi>,<lb/> gehn voruͤber. Jeder haͤlt eine Schreibtafel in der Hand, worauf<lb/> ein <hi rendition="#g">Diſtichon</hi> geſchrieben ſteht. Die Sphinx liest die Diſticha,<lb/> und wirft die Verfaſſer nach allen Seiten in den Abgrund. Zuletzt<lb/> erſcheint <hi rendition="#g">Oedipus</hi>.)</stage> </sp><lb/> <sp who="#OED"> <speaker> <hi rendition="#c"><hi rendition="#g">Oedipus</hi>.</hi> </speaker><lb/> <p>Biſt du das Ungethuͤm, von dem ſie ſagen,<lb/> Du litteſt keine Verſe, welche hinken,<lb/> Und ließeſt Alle, die dergleichen wagen,<lb/> Den bittern Tod in dieſem Schlunde trinken,<lb/> Und ſtuͤndeſt ab, das arme Land zu plagen,<lb/> Wenn unter allen dieſen lauten Finken<lb/> Nur Eine Nachtigall zu finden waͤre,<lb/> Die ohne Fehl ein Diſtichon gebaͤre?</p> </sp><lb/> <sp who="#SPH"> <speaker> <hi rendition="#c"><hi rendition="#g">Die Sphinx</hi>.</hi> </speaker><lb/> <p>Daß Jeder das, was er betreibt, verſtehe,<lb/> Wag' ich zu fodern und aus guten Gruͤnden:<lb/> Zwar ſcheint ein ſchlechter Vers ein kleines Wehe,<lb/> Und doch erzeugt er eine Menge Suͤnden;<lb/> Denn allzuleicht nur wird in wilder Ehe<lb/> Sich eine ſchlechte That mit ihm verbuͤnden:<lb/> Wer durch ſich ſelbſt kann keinen Kranz erreichen,<lb/> Der muß denſelben raͤnkevoll erſchleichen.</p> </sp><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [54/0060]
Ihr Millionen oder Milliarden,
Die ihr genippt aus Hippokrene's Lache,
Verſorgend jaͤhrlich mit ſo viel Baſtarden
Die Findelhaͤuſer aller Almanache:
Ich bin die Sphinx, die Zoͤllnerin der Barden,
Indem ich zinsbar eure Verſe mache;
Zwar Verſe duͤnken euch bequeme Zoͤlle,
Doch ſind ſie ſchlecht, ſo ſchick' ich euch zur Hoͤlle!
(Eine Menge Dichter, worunter auch Kind und Kindeskind,
gehn voruͤber. Jeder haͤlt eine Schreibtafel in der Hand, worauf
ein Diſtichon geſchrieben ſteht. Die Sphinx liest die Diſticha,
und wirft die Verfaſſer nach allen Seiten in den Abgrund. Zuletzt
erſcheint Oedipus.)
Oedipus.
Biſt du das Ungethuͤm, von dem ſie ſagen,
Du litteſt keine Verſe, welche hinken,
Und ließeſt Alle, die dergleichen wagen,
Den bittern Tod in dieſem Schlunde trinken,
Und ſtuͤndeſt ab, das arme Land zu plagen,
Wenn unter allen dieſen lauten Finken
Nur Eine Nachtigall zu finden waͤre,
Die ohne Fehl ein Diſtichon gebaͤre?
Die Sphinx.
Daß Jeder das, was er betreibt, verſtehe,
Wag' ich zu fodern und aus guten Gruͤnden:
Zwar ſcheint ein ſchlechter Vers ein kleines Wehe,
Und doch erzeugt er eine Menge Suͤnden;
Denn allzuleicht nur wird in wilder Ehe
Sich eine ſchlechte That mit ihm verbuͤnden:
Wer durch ſich ſelbſt kann keinen Kranz erreichen,
Der muß denſelben raͤnkevoll erſchleichen.
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Zitationshilfe: | Platen, August von: Der romantische Oedipus. Stuttgart u. a., 1829, S. 54. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/platen_oedipus_1829/60>, abgerufen am 11.02.2025. |