Pichler, Adolf: Der Flüchtling. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 13. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 233–318. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016.Er kroch gähnend unter dem Tisch hervor, reckte sich und fletschte auf Naz die Zähne. Sind doch Vieh und Menschen gleich zuwider! fluchte dieser und verließ die Stube. Er wollte zum Krämer, Zunder und Feuerstein kaufen. Männer, Weiber gingen an ihm vorüber, Niemand schaute ihn an. Es wurde ihm fast unheimlich zu Muthe. Er trat in den Laden: Zunder und Feuerstein! Die Leute thaten, als sähen und hörten sie nichts. Bin ich denn unsichtbar? schrie er und schlug auf den Tisch, daß Schachteln und Büchsen tanzten. Niemand antwortete. Da stürzte er hinaus, fast wahnsinnig lief er heim. Er stolperte über einen Stein und fiel, daß das Blut über sein Gesicht rann. Langsam wischte er sich ab und starrte auf seine gerötheten Finger: Nein, ich lebe noch, Geister haben kein Blut. Zu Hause war bereits der Tisch gedeckt. Sein Vater zog eben die schnarrende Schwarzwälderuhr im Winkel auf; er erzählte ihm, was ihm widerfahren. Der Alte sah ihn schweigend an, über seine braunen, gefurchten Wangen floß eine Thräne. Die Suppe wurde aufgetragen; wie bei einem Todtenmahle war Alles stumm. Naz legte den Löffel bei Seite und stieg auf den Söller. Hier brütete er lange, den Kopf auf den Arm gestützt, vor sich hin, endlich stand er auf, ging in die Kammer, nahm einen Stutzen von der Wand Er kroch gähnend unter dem Tisch hervor, reckte sich und fletschte auf Naz die Zähne. Sind doch Vieh und Menschen gleich zuwider! fluchte dieser und verließ die Stube. Er wollte zum Krämer, Zunder und Feuerstein kaufen. Männer, Weiber gingen an ihm vorüber, Niemand schaute ihn an. Es wurde ihm fast unheimlich zu Muthe. Er trat in den Laden: Zunder und Feuerstein! Die Leute thaten, als sähen und hörten sie nichts. Bin ich denn unsichtbar? schrie er und schlug auf den Tisch, daß Schachteln und Büchsen tanzten. Niemand antwortete. Da stürzte er hinaus, fast wahnsinnig lief er heim. Er stolperte über einen Stein und fiel, daß das Blut über sein Gesicht rann. Langsam wischte er sich ab und starrte auf seine gerötheten Finger: Nein, ich lebe noch, Geister haben kein Blut. Zu Hause war bereits der Tisch gedeckt. Sein Vater zog eben die schnarrende Schwarzwälderuhr im Winkel auf; er erzählte ihm, was ihm widerfahren. Der Alte sah ihn schweigend an, über seine braunen, gefurchten Wangen floß eine Thräne. Die Suppe wurde aufgetragen; wie bei einem Todtenmahle war Alles stumm. Naz legte den Löffel bei Seite und stieg auf den Söller. Hier brütete er lange, den Kopf auf den Arm gestützt, vor sich hin, endlich stand er auf, ging in die Kammer, nahm einen Stutzen von der Wand <TEI> <text> <body> <div n="6"> <p><pb facs="#f0066"/> Er kroch gähnend unter dem Tisch hervor, reckte sich und fletschte auf Naz die Zähne.</p><lb/> <p>Sind doch Vieh und Menschen gleich zuwider! fluchte dieser und verließ die Stube. Er wollte zum Krämer, Zunder und Feuerstein kaufen. Männer, Weiber gingen an ihm vorüber, Niemand schaute ihn an. Es wurde ihm fast unheimlich zu Muthe. Er trat in den Laden: Zunder und Feuerstein!</p><lb/> <p>Die Leute thaten, als sähen und hörten sie nichts.</p><lb/> <p>Bin ich denn unsichtbar? schrie er und schlug auf den Tisch, daß Schachteln und Büchsen tanzten.</p><lb/> <p>Niemand antwortete.</p><lb/> <p>Da stürzte er hinaus, fast wahnsinnig lief er heim. Er stolperte über einen Stein und fiel, daß das Blut über sein Gesicht rann. Langsam wischte er sich ab und starrte auf seine gerötheten Finger: Nein, ich lebe noch, Geister haben kein Blut.</p><lb/> <p>Zu Hause war bereits der Tisch gedeckt. Sein Vater zog eben die schnarrende Schwarzwälderuhr im Winkel auf; er erzählte ihm, was ihm widerfahren. Der Alte sah ihn schweigend an, über seine braunen, gefurchten Wangen floß eine Thräne.</p><lb/> <p>Die Suppe wurde aufgetragen; wie bei einem Todtenmahle war Alles stumm.</p><lb/> <p>Naz legte den Löffel bei Seite und stieg auf den Söller. Hier brütete er lange, den Kopf auf den Arm gestützt, vor sich hin, endlich stand er auf, ging in die Kammer, nahm einen Stutzen von der Wand<lb/></p> </div> </body> </text> </TEI> [0066]
Er kroch gähnend unter dem Tisch hervor, reckte sich und fletschte auf Naz die Zähne.
Sind doch Vieh und Menschen gleich zuwider! fluchte dieser und verließ die Stube. Er wollte zum Krämer, Zunder und Feuerstein kaufen. Männer, Weiber gingen an ihm vorüber, Niemand schaute ihn an. Es wurde ihm fast unheimlich zu Muthe. Er trat in den Laden: Zunder und Feuerstein!
Die Leute thaten, als sähen und hörten sie nichts.
Bin ich denn unsichtbar? schrie er und schlug auf den Tisch, daß Schachteln und Büchsen tanzten.
Niemand antwortete.
Da stürzte er hinaus, fast wahnsinnig lief er heim. Er stolperte über einen Stein und fiel, daß das Blut über sein Gesicht rann. Langsam wischte er sich ab und starrte auf seine gerötheten Finger: Nein, ich lebe noch, Geister haben kein Blut.
Zu Hause war bereits der Tisch gedeckt. Sein Vater zog eben die schnarrende Schwarzwälderuhr im Winkel auf; er erzählte ihm, was ihm widerfahren. Der Alte sah ihn schweigend an, über seine braunen, gefurchten Wangen floß eine Thräne.
Die Suppe wurde aufgetragen; wie bei einem Todtenmahle war Alles stumm.
Naz legte den Löffel bei Seite und stieg auf den Söller. Hier brütete er lange, den Kopf auf den Arm gestützt, vor sich hin, endlich stand er auf, ging in die Kammer, nahm einen Stutzen von der Wand
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Zitationshilfe: | Pichler, Adolf: Der Flüchtling. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 13. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 233–318. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/pichler_fluechtling_1910/66>, abgerufen am 16.02.2025. |