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Philippi, Johann Ernst: Regeln und Maximen der edlen Reimschmiede-Kunst, auch kriechender Poesie. Altenburg, 1743.

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Zwey hundert Maximen
er gleich keinen einzigen Vers sein Lebetage ge-
macht hätte. So wenig einer mit verhauenen
Fingern
das Clavier oder die Theorbe spielen
kann: So wenig soll sich einer zur Poesie drin-
gen, wenn ihm die Natur das Talent versagt
hat, in Einfällen glücklich zu seyn, und auf un-
gebundene Art die Reime zu verbinden.
CLXXVI. Der wahre poetische Geschmack
erfordert einen scharfsinnigen Kopf, geschwinde
Einfälle, verdeckte Schönheiten, lebhafte Vor-
stellungen, paradoxe und unerwartete Gedan-
ken, eine edle Dreistigkeit in Ausdrücken, und
ein Feuer, das den Leser und Zuhörer in Be-
wegung setze. Die Poesien der Ober- und
Nieder-Sachsen, die Gedichte eines Brocks,
Richeys, Weichmanns, Königs, Canitzens,
Bessers, Pietschens, Neukirchs, Opitzens,
Hallers, Gottscheds, Picanders, Günthers,

Madame von Steinwehr, oder vormaligen
Madame von Ziegler, Löberinn, Zäuneman-
ninn, etc.
enthalten einen fürtrefflichen poeti-
schen Geschmack. Doch verlassen auch die größ-
ten
Poeten unterweilen ihre Stärke, und nei-
gen sich manchmal zum Bathos, oder auch Phö-
bus;
welches sie leicht verbessern würden, wenn
sie ihre Gedichte nochmals übersehen sollten.
CLXXVII. Der Verfasser des hamburgi-
schen Patrioten
hat die Eigenschaften des wah-
ren poetischen Geschmacks auf sinnreiche Art
dadurch vorgestellet, daß er die reine Poesie ei-
ner hellen Quelle vergleichet, die ganz anmuthig
dahin
Zwey hundert Maximen
er gleich keinen einzigen Vers ſein Lebetage ge-
macht haͤtte. So wenig einer mit verhauenen
Fingern
das Clavier oder die Theorbe ſpielen
kann: So wenig ſoll ſich einer zur Poeſie drin-
gen, wenn ihm die Natur das Talent verſagt
hat, in Einfaͤllen gluͤcklich zu ſeyn, und auf un-
gebundene Art die Reime zu verbinden.
CLXXVI. Der wahre poetiſche Geſchmack
erfordert einen ſcharfſinnigen Kopf, geſchwinde
Einfaͤlle, verdeckte Schoͤnheiten, lebhafte Vor-
ſtellungen, paradoxe und unerwartete Gedan-
ken, eine edle Dreiſtigkeit in Ausdruͤcken, und
ein Feuer, das den Leſer und Zuhoͤrer in Be-
wegung ſetze. Die Poeſien der Ober- und
Nieder-Sachſen, die Gedichte eines Brocks,
Richeys, Weichmanns, Koͤnigs, Canitzens,
Beſſers, Pietſchens, Neukirchs, Opitzens,
Hallers, Gottſcheds, Picanders, Guͤnthers,

Madame von Steinwehr, oder vormaligen
Madame von Ziegler, Loͤberinn, Zaͤuneman-
ninn, ꝛc.
enthalten einen fuͤrtrefflichen poeti-
ſchen Geſchmack. Doch verlaſſen auch die groͤß-
ten
Poeten unterweilen ihre Staͤrke, und nei-
gen ſich manchmal zum Bathos, oder auch Phoͤ-
bus;
welches ſie leicht verbeſſern wuͤrden, wenn
ſie ihre Gedichte nochmals uͤberſehen ſollten.
CLXXVII. Der Verfaſſer des hamburgi-
ſchen Patrioten
hat die Eigenſchaften des wah-
ren poetiſchen Geſchmacks auf ſinnreiche Art
dadurch vorgeſtellet, daß er die reine Poeſie ei-
ner hellen Quelle vergleichet, die ganz anmuthig
dahin
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[246/0254] Zwey hundert Maximen er gleich keinen einzigen Vers ſein Lebetage ge- macht haͤtte. So wenig einer mit verhauenen Fingern das Clavier oder die Theorbe ſpielen kann: So wenig ſoll ſich einer zur Poeſie drin- gen, wenn ihm die Natur das Talent verſagt hat, in Einfaͤllen gluͤcklich zu ſeyn, und auf un- gebundene Art die Reime zu verbinden. CLXXVI. Der wahre poetiſche Geſchmack erfordert einen ſcharfſinnigen Kopf, geſchwinde Einfaͤlle, verdeckte Schoͤnheiten, lebhafte Vor- ſtellungen, paradoxe und unerwartete Gedan- ken, eine edle Dreiſtigkeit in Ausdruͤcken, und ein Feuer, das den Leſer und Zuhoͤrer in Be- wegung ſetze. Die Poeſien der Ober- und Nieder-Sachſen, die Gedichte eines Brocks, Richeys, Weichmanns, Koͤnigs, Canitzens, Beſſers, Pietſchens, Neukirchs, Opitzens, Hallers, Gottſcheds, Picanders, Guͤnthers, Madame von Steinwehr, oder vormaligen Madame von Ziegler, Loͤberinn, Zaͤuneman- ninn, ꝛc. enthalten einen fuͤrtrefflichen poeti- ſchen Geſchmack. Doch verlaſſen auch die groͤß- ten Poeten unterweilen ihre Staͤrke, und nei- gen ſich manchmal zum Bathos, oder auch Phoͤ- bus; welches ſie leicht verbeſſern wuͤrden, wenn ſie ihre Gedichte nochmals uͤberſehen ſollten. CLXXVII. Der Verfaſſer des hamburgi- ſchen Patrioten hat die Eigenſchaften des wah- ren poetiſchen Geſchmacks auf ſinnreiche Art dadurch vorgeſtellet, daß er die reine Poeſie ei- ner hellen Quelle vergleichet, die ganz anmuthig dahin

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Zitationshilfe: Philippi, Johann Ernst: Regeln und Maximen der edlen Reimschmiede-Kunst, auch kriechender Poesie. Altenburg, 1743, S. 246. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/philippi_reimschmiedekunst_1743/254>, abgerufen am 23.11.2024.