anderer affectirt herauskomme, oder die Origi- nale, denen wir nachahmen, sichs für einen Schimpf achten, daß, anstatt ihnen nachzuflic- gen, wir ihnen nachkriechen, mithin von der Nachahmung derselben weit ab sind; aber die erhabenen Poeten bekommen doch dadurch ihre Lection, daß, wenn sie sich zu genau an irgend eines Poeten Muster bänden, sollte es auch selbst Horaz seyn, sie ein seruum pecus imitatorum seyn würden.
Noch ein Sophisma scheinet hinter meiner Dollmetschung von den angeführten Worten des Horaz zu stecken. Man nennet das ein Sophisina in diuisione, wenn man diejenige Idee zum praedicato einer Proposition referiret, die zum subiecto hätte geschlagen werden sollen. Also sey hier der Satz eigentlich dieser nicht: Imitatores sunt seruum pecus. Denn so wä- re die Idee eines serui pecoris das praedica- tum von dem subiecto, oder imitatoribus; son- dern eben diese idea: pecus seruum, gehöre, als eine Neben-Jdee, ja als eine idea limitans, zum subiecto, nämlich imitatorum, so daß Ho- raz so viel sagen wollen, als: Illi imitatores, qui sunt seruum pecus, sunt reprehendendi. Aber auf diese Art hätte Horaz das ganze prae- dicatumverschlucket. Denn wenn ich nun spräche: O ihr sclavischen Nachäffer anderer! O ihr plumpes Vieh bey Nachahmung anderer! So wäre es doch keine vollständige Proposi- tion, wo man nicht zu diesem subiecto wenig-
stens
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de arte poëtica.
anderer affectirt herauskomme, oder die Origi- nale, denen wir nachahmen, ſichs fuͤr einen Schimpf achten, daß, anſtatt ihnen nachzuflic- gen, wir ihnen nachkriechen, mithin von der Nachahmung derſelben weit ab ſind; aber die erhabenen Poeten bekommen doch dadurch ihre Lection, daß, wenn ſie ſich zu genau an irgend eines Poeten Muſter baͤnden, ſollte es auch ſelbſt Horaz ſeyn, ſie ein ſeruum pecus imitatorum ſeyn wuͤrden.
Noch ein Sophiſma ſcheinet hinter meiner Dollmetſchung von den angefuͤhrten Worten des Horaz zu ſtecken. Man nennet das ein Sophiſina in diuiſione, wenn man diejenige Idee zum praedicato einer Propoſition referiret, die zum ſubiecto haͤtte geſchlagen werden ſollen. Alſo ſey hier der Satz eigentlich dieſer nicht: Imitatores ſunt ſeruum pecus. Denn ſo waͤ- re die Idée eines ſerui pecoris das praedica- tum von dem ſubiecto, oder imitatoribus; ſon- dern eben dieſe idea: pecus ſeruum, gehoͤre, als eine Neben-Jdee, ja als eine idea limitans, zum ſubiecto, naͤmlich imitatorum, ſo daß Ho- raz ſo viel ſagen wollen, als: Illi imitatores, qui ſunt ſeruum pecus, ſunt reprehendendi. Aber auf dieſe Art haͤtte Horaz das ganze prae- dicatumverſchlucket. Denn wenn ich nun ſpraͤche: O ihr ſclaviſchen Nachaͤffer anderer! O ihr plumpes Vieh bey Nachahmung anderer! So waͤre es doch keine vollſtaͤndige Propoſi- tion, wo man nicht zu dieſem ſubiecto wenig-
ſtens
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de arte poëtica.
anderer affectirt herauskomme, oder die Origi-
nale, denen wir nachahmen, ſichs fuͤr einen
Schimpf achten, daß, anſtatt ihnen nachzuflic-
gen, wir ihnen nachkriechen, mithin von der
Nachahmung derſelben weit ab ſind; aber die
erhabenen Poeten bekommen doch dadurch ihre
Lection, daß, wenn ſie ſich zu genau an irgend
eines Poeten Muſter baͤnden, ſollte es auch ſelbſt
Horaz ſeyn, ſie ein ſeruum pecus imitatorum
ſeyn wuͤrden.
Noch ein Sophiſma ſcheinet hinter meiner
Dollmetſchung von den angefuͤhrten Worten
des Horaz zu ſtecken. Man nennet das ein
Sophiſina in diuiſione, wenn man diejenige
Idee zum praedicato einer Propoſition referiret,
die zum ſubiecto haͤtte geſchlagen werden ſollen.
Alſo ſey hier der Satz eigentlich dieſer nicht:
Imitatores ſunt ſeruum pecus. Denn ſo waͤ-
re die Idée eines ſerui pecoris das praedica-
tum von dem ſubiecto, oder imitatoribus; ſon-
dern eben dieſe idea: pecus ſeruum, gehoͤre,
als eine Neben-Jdee, ja als eine idea limitans,
zum ſubiecto, naͤmlich imitatorum, ſo daß Ho-
raz ſo viel ſagen wollen, als: Illi imitatores,
qui ſunt ſeruum pecus, ſunt reprehendendi.
Aber auf dieſe Art haͤtte Horaz das ganze prae-
dicatum verſchlucket. Denn wenn ich nun
ſpraͤche: O ihr ſclaviſchen Nachaͤffer anderer!
O ihr plumpes Vieh bey Nachahmung anderer!
So waͤre es doch keine vollſtaͤndige Propoſi-
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Philippi, Johann Ernst: Regeln und Maximen der edlen Reimschmiede-Kunst, auch kriechender Poesie. Altenburg, 1743, S. 165. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/philippi_reimschmiedekunst_1743/173>, abgerufen am 18.02.2025.
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