Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Pflüger, Eduard Friedrich Wilhelm: Die sensorischen Functionen des Rückenmarks der Wirbelthiere. Berlin, 1853.

Bild:
<< vorherige Seite

noch nach wie vor die Frösche ihre Beine an den Leib ziehen
sehen, nachdem also die peripherischen Nervenendigungen gar
nicht mehr vorhanden waren und mithin von einem für Kürsch¬
ner
nachgewiesenen diese treffenden Reize keine Rede mehr
sein konnte. Kürschner sagt nun aber selbst (a. a. O. p. 135.):
"Alle unter der Haut gelegenen Gebilde müssen sehr (!) stark
verletzt werden, wenn Bewegungen erfolgen. Bei frisch deca¬
pitirten Thieren habe ich Muskeln gebrannt, mit Schwefel- und
Salpetersäure betupft, ich habe sie gezerrt und gerissen und
oft ohne Erfolg." Wenn man nun trotz alle Dem und trotz der
Entfernung der peripherischen Nervenendigungen die Frösche
ohne jede nachweisbare Veranlassung nach wie vor ihre Beine
an den Leib ziehen sieht, so erscheint die Annahme reflectori¬
scher Thätigkeit vollkommen unstatthaft, und die Bewegung
centralen Ursprungs.

Man könnte gegen die Bewegung als willkürliche noch den
Einwand machen, dass sie bedingt sei durch den Wundreiz
des durchschnittenen Markes. Da nämlich nach Engelhardt
(Müller's Archiv v. 1841 p. 260.) ein Reiz der oberen Rücken¬
markspartie vorzugsweise Beugung, der unteren vorzugsweise
Streckung der Gliedmassen erzeugt, da ausserdem die Enthaup¬
tung fast immer in der oberen Rückenmarkshälfte vorgenommen
wird, so dürfte dieser Einwand vorerst nicht ohne Gewicht sein.
Es lässt sich indessen leicht zeigen, dass auch er unhaltbar ist.
Man köpfe einen Frosch dicht hinter dem Occiput; denn auch
dieser entwickelt nach Bell, Hall, Grainger, Flourens,
Kürschner keine sensorischen Functionen mehr durch die
Vermittlung des noch vorhandenen Stückes der Medulla oblon¬
gata. Dieser Frosch zieht ebenfalls die Beine an und setzt sich
zurecht. Man reize nun mit einem Drahte die Durchschnitts¬
stelle des Markes, und man wird finden, dass die Schenkel mei¬
stens ganz ruhig bleiben und nur in den Hals- und Armmuskeln
bebende und zitternde Erschütterungen sichtbar werden! Zur
genaueren Beobachtung enthäutet man den Frosch. Somit giebt
uns auch der Wundreiz des Centralmarks keinen Aufschluss.

noch nach wie vor die Frösche ihre Beine an den Leib ziehen
sehen, nachdem also die peripherischen Nervenendigungen gar
nicht mehr vorhanden waren und mithin von einem für Kürsch¬
ner
nachgewiesenen diese treffenden Reize keine Rede mehr
sein konnte. Kürschner sagt nun aber selbst (a. a. O. p. 135.):
„Alle unter der Haut gelegenen Gebilde müssen sehr (!) stark
verletzt werden, wenn Bewegungen erfolgen. Bei frisch deca¬
pitirten Thieren habe ich Muskeln gebrannt, mit Schwefel- und
Salpetersäure betupft, ich habe sie gezerrt und gerissen und
oft ohne Erfolg.“ Wenn man nun trotz alle Dem und trotz der
Entfernung der peripherischen Nervenendigungen die Frösche
ohne jede nachweisbare Veranlassung nach wie vor ihre Beine
an den Leib ziehen sieht, so erscheint die Annahme reflectori¬
scher Thätigkeit vollkommen unstatthaft, und die Bewegung
centralen Ursprungs.

Man könnte gegen die Bewegung als willkürliche noch den
Einwand machen, dass sie bedingt sei durch den Wundreiz
des durchschnittenen Markes. Da nämlich nach Engelhardt
(Müller's Archiv v. 1841 p. 260.) ein Reiz der oberen Rücken¬
markspartie vorzugsweise Beugung, der unteren vorzugsweise
Streckung der Gliedmassen erzeugt, da ausserdem die Enthaup¬
tung fast immer in der oberen Rückenmarkshälfte vorgenommen
wird, so dürfte dieser Einwand vorerst nicht ohne Gewicht sein.
Es lässt sich indessen leicht zeigen, dass auch er unhaltbar ist.
Man köpfe einen Frosch dicht hinter dem Occiput; denn auch
dieser entwickelt nach Bell, Hall, Grainger, Flourens,
Kürschner keine sensorischen Functionen mehr durch die
Vermittlung des noch vorhandenen Stückes der Medulla oblon¬
gata. Dieser Frosch zieht ebenfalls die Beine an und setzt sich
zurecht. Man reize nun mit einem Drahte die Durchschnitts¬
stelle des Markes, und man wird finden, dass die Schenkel mei¬
stens ganz ruhig bleiben und nur in den Hals- und Armmuskeln
bebende und zitternde Erschütterungen sichtbar werden! Zur
genaueren Beobachtung enthäutet man den Frosch. Somit giebt
uns auch der Wundreiz des Centralmarks keinen Aufschluss.

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0061" n="39"/>
noch nach wie vor die Frösche ihre Beine an den Leib ziehen<lb/>
sehen, nachdem also die peripherischen Nervenendigungen gar<lb/>
nicht mehr vorhanden waren und mithin von einem für <hi rendition="#g">Kürsch¬<lb/>
ner</hi> nachgewiesenen diese treffenden Reize keine Rede mehr<lb/>
sein konnte. <hi rendition="#g">Kürschner</hi> sagt nun aber selbst (a. a. O. p. 135.):<lb/>
&#x201E;Alle unter der Haut gelegenen Gebilde müssen sehr (!) stark<lb/>
verletzt werden, wenn Bewegungen erfolgen. Bei frisch deca¬<lb/>
pitirten Thieren habe ich Muskeln gebrannt, mit Schwefel- und<lb/>
Salpetersäure betupft, ich habe sie gezerrt und gerissen und<lb/>
oft ohne Erfolg.&#x201C; Wenn man nun trotz alle Dem und trotz der<lb/>
Entfernung der peripherischen Nervenendigungen die Frösche<lb/>
ohne jede nachweisbare Veranlassung nach wie vor ihre Beine<lb/>
an den Leib ziehen sieht, so erscheint die Annahme reflectori¬<lb/>
scher Thätigkeit vollkommen unstatthaft, und die Bewegung<lb/>
centralen Ursprungs.</p><lb/>
        <p>Man könnte gegen die Bewegung als willkürliche noch den<lb/>
Einwand machen, dass sie bedingt sei durch den Wundreiz<lb/>
des durchschnittenen Markes. Da nämlich nach <hi rendition="#g">Engelhardt</hi><lb/>
(Müller's Archiv v. 1841 p. 260.) ein Reiz der oberen Rücken¬<lb/>
markspartie vorzugsweise Beugung, der unteren vorzugsweise<lb/>
Streckung der Gliedmassen erzeugt, da ausserdem die Enthaup¬<lb/>
tung fast immer in der oberen Rückenmarkshälfte vorgenommen<lb/>
wird, so dürfte dieser Einwand vorerst nicht ohne Gewicht sein.<lb/>
Es lässt sich indessen leicht zeigen, dass auch er unhaltbar ist.<lb/>
Man köpfe einen Frosch dicht hinter dem Occiput; denn auch<lb/>
dieser entwickelt nach <hi rendition="#g">Bell</hi>, <hi rendition="#g">Hall</hi>, <hi rendition="#g">Grainger</hi>, <hi rendition="#g">Flourens</hi>,<lb/><hi rendition="#g">Kürschner</hi> keine sensorischen Functionen mehr durch die<lb/>
Vermittlung des noch vorhandenen Stückes der Medulla oblon¬<lb/>
gata. Dieser Frosch zieht ebenfalls die Beine an und setzt sich<lb/>
zurecht. Man reize nun mit einem Drahte die Durchschnitts¬<lb/>
stelle des Markes, und man wird finden, dass die Schenkel mei¬<lb/>
stens ganz ruhig bleiben und nur in den Hals- und Armmuskeln<lb/>
bebende und zitternde Erschütterungen sichtbar werden! Zur<lb/>
genaueren Beobachtung enthäutet man den Frosch. Somit giebt<lb/>
uns auch der Wundreiz des Centralmarks keinen Aufschluss.</p><lb/>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[39/0061] noch nach wie vor die Frösche ihre Beine an den Leib ziehen sehen, nachdem also die peripherischen Nervenendigungen gar nicht mehr vorhanden waren und mithin von einem für Kürsch¬ ner nachgewiesenen diese treffenden Reize keine Rede mehr sein konnte. Kürschner sagt nun aber selbst (a. a. O. p. 135.): „Alle unter der Haut gelegenen Gebilde müssen sehr (!) stark verletzt werden, wenn Bewegungen erfolgen. Bei frisch deca¬ pitirten Thieren habe ich Muskeln gebrannt, mit Schwefel- und Salpetersäure betupft, ich habe sie gezerrt und gerissen und oft ohne Erfolg.“ Wenn man nun trotz alle Dem und trotz der Entfernung der peripherischen Nervenendigungen die Frösche ohne jede nachweisbare Veranlassung nach wie vor ihre Beine an den Leib ziehen sieht, so erscheint die Annahme reflectori¬ scher Thätigkeit vollkommen unstatthaft, und die Bewegung centralen Ursprungs. Man könnte gegen die Bewegung als willkürliche noch den Einwand machen, dass sie bedingt sei durch den Wundreiz des durchschnittenen Markes. Da nämlich nach Engelhardt (Müller's Archiv v. 1841 p. 260.) ein Reiz der oberen Rücken¬ markspartie vorzugsweise Beugung, der unteren vorzugsweise Streckung der Gliedmassen erzeugt, da ausserdem die Enthaup¬ tung fast immer in der oberen Rückenmarkshälfte vorgenommen wird, so dürfte dieser Einwand vorerst nicht ohne Gewicht sein. Es lässt sich indessen leicht zeigen, dass auch er unhaltbar ist. Man köpfe einen Frosch dicht hinter dem Occiput; denn auch dieser entwickelt nach Bell, Hall, Grainger, Flourens, Kürschner keine sensorischen Functionen mehr durch die Vermittlung des noch vorhandenen Stückes der Medulla oblon¬ gata. Dieser Frosch zieht ebenfalls die Beine an und setzt sich zurecht. Man reize nun mit einem Drahte die Durchschnitts¬ stelle des Markes, und man wird finden, dass die Schenkel mei¬ stens ganz ruhig bleiben und nur in den Hals- und Armmuskeln bebende und zitternde Erschütterungen sichtbar werden! Zur genaueren Beobachtung enthäutet man den Frosch. Somit giebt uns auch der Wundreiz des Centralmarks keinen Aufschluss.

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/pflueger_rueckenmark_1853
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/pflueger_rueckenmark_1853/61
Zitationshilfe: Pflüger, Eduard Friedrich Wilhelm: Die sensorischen Functionen des Rückenmarks der Wirbelthiere. Berlin, 1853, S. 39. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/pflueger_rueckenmark_1853/61>, abgerufen am 21.11.2024.